Am Brunnen vor dem Tore. Eine Liedergeschichte rund um das Volksklied
In dieser Liedergeschichte dreht sich alles um das Lied “Am Brunnen vor dem Tore” singen Sie an den angegebenen Stellen die angegebene Strophe.
Am Brunnen vor dem Tore
Helmuth ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Seine Eltern hatten einen beschaulichen Hof. Dort wuchs er mit Schafen, Ziegen, einer Kuh, dem Hofhund und ein paar Hühnern auf. Seine Geschwister, seine Cousins und seine Freunde spielten stundenlang zusammen. Das war manchmal ganz schön trubelig. Wenn es Helmuth zu viel wurde, ging er vor das große Tor des Dorfes mit der alten, noch erhaltenen Stadtmauer. Dort stand ein Brunnen und über dem Brunnen stand ein großer, schöner Lindenbaum. Er konnte unter dem Baum ungestört seinen Träumen und Gedanken nachhängen. Das tat er oft. Es war egal, ob er besonders traurig oder besonders glücklich war, der Baum war sein Zufluchtsort.
Als er mit 16 Jahren das erste Mal verliebt war, Susanne hieß die Angebetete, ritzte er mit einem Messer seinen eigenen und ihren Namen in die Rinde des Lindenbaums. Susanne freute sich über die Geste so sehr, dass Helmuth unter “seinem” Lindenbaum den ersten Kuss seines Lebens bekam.
Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum,
ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort.
Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immerfort,
zu ihm mich immerfort.
Kurz nach seiner ersten Liebelei ging Helmuth in die Lehre. Seine Lehrstelle war im Nachbardorf und er wohnte auch vorübergehend dort. Natürlich besuchte er seine Eltern, seine Geschwister, seine Cousins, seine Freunde, die Schafe, die Ziegen, die Kuh, den Hofhund und die Hühner so oft es ging.
Bei einem seiner Besuche, war es sehr spät geworden, doch als er das Tor durchschritt, hörte er die Zweige seines Baumes im Wind rauschen. Trotz der vorgerückten Stunde, konnte er nicht widerstehen und setzte sich noch eine Weile an den Stamm seines Baumes. Er atmete die kühle Nachtluft ein und fühlte sich, wie immer an seinem Zufluchtsort, sicher und geborgen.
Ich mußt’ auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht,
da hab’ ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle, hier find’st du deine Ruh!
Heute ist Helmuth selbst Großvater und in die große Stadt gezogen, in der sein Sohn mit seiner Schwiegertochter und seinen Enkelkindern wohnt. Das Leben hat so manche Tücke für ihn vorgesehen. Er schafft es nicht mehr alleine zu wohnen und ist dankbar dafür, dass er eine so nette Familie hat, die sich um ihn kümmert. Er freut sich jeden Tag darüber, dass er sehen kann wie seine Enkelkinder groß werden.
Er erzählt ihnen oft von Schafen, Ziegen, einer Kuh, einem Hofhund und ein paar Hühnern. Er erzählt ihnen auch von seinen Erlebnissen mit seinen Geschwistern, Cousins und Freunden. Dann staunen die Enkelkinder und fragen dem Opa Löcher in den Bauch.
Von seinem Lindenbaum erzählt Opa Helmuth den Enkeln aber nichts. Die Erinnerung an seinen Baum gehört ihm ganz alleine. Manchmal, wenn er abends in seinem Bett liegt, sehnt er sich sehr nach seinem Baum. Nach seinem Zufluchtsort.
Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht,
der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort,
und immer hör ich’s rauschen: du fändest Ruhe dort!
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