Sinnesgeschichten für Senioren. Brausepulver
Jules Vorfreude war riesengroß. Brausepulver gab es nicht jeden Tag. Dass sie nun die kleinen bunten Tütchen vor sich liegen hatte, war für sie etwas ganz Besonderes. Mama hatte ihr gerade erlaubt, eines davon zu naschen. Darauf hatte sie sich schon den ganzen Tag gefreut.
Tante Lisa war gestern zu Besuch gekommen und hatte ihr eine Packung Brausepulver mitgebracht. Eine ganze Packung nur für sie allein.
Nur bei dem Gedanken an das saure, prickelnde Pulver lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, schon den sauren Geschmack an den Zungenrändern zu spüren – ohne auch nur ein Körnchen Brause im Mund zu haben.
Stolz strich sie über das glatte, feine Papier der kleinen Brausetütchen. Sie musste unbedingt ihre Lieblingssorte probieren. Die anderen Tütchen legte sie zurück in das Vorratsglas und schloss behutsam den Deckel. Sie hatte sie nach Farben sortiert. In dieser Packung waren tatsächlich die meisten Brausetütchen in ihrer Lieblingssorte. Das hatte sie noch nie gehabt.
Jule strich mit den Fingerspitzen noch einmal über die glatte Oberfläche und sah sich das Bild auf der Vorderseite an. Dann riss sie vorsichtig den oberen Rand ab. Aber so, dass das Papier nicht eingerissen war. Sie drückte die Ränder auseinander und schaute sich die kleinen Körnchen an. Schon wieder spürte sie das säuerliche Gefühl auf ihrer Zunge. Das Brausepulver war immer noch in dem Tütchen.
Voller Vorfreude leckte sie an der Fingerspitze ihres Zeigefingers und tauchte ihn in das Pulver. Es fühlte sich an wie der Sand im Sandkasten. Nur, dass es besser am Finger kleben blieb.
Vorsichtig – umso wenig Brausepulver wie möglich zu verlieren – zog sie ihren Finger zurück und steckte ihn in ihren Mund. Es prickelte auf ihrer Zunge. Jule spürte, wie sich ihr Gesicht verzog. Dabei schmeckte die Brause vorzüglich! Noch besser, als sie es sich aus ihren Erinnerungen vorgestellt hatte.
Ihre Zungenränder zogen sich zusammen. Gleichzeitig war da der süße Geschmack ihrer Lieblingssorte. Jule grinste. Sie war voll und ganz zufrieden. Das prickelnde Brausepulver im Mund zu spüren war für sie wirklich etwas ganz Besonderes. Tante Lisa wusste genau, wie gerne sie es mochte. Meist war es auch sie, die Jule die bunten Päckchen mitbrachte, wenn sie zu Besuch kam.
Jule tauchte ihren Finger wieder in das Brausepulver. Dieses Mal kam es ihr gar nicht mehr so sauer vor wie beim ersten Mal. Aber genauso lecker. Genüsslich schleckte sie einen Finger nach dem anderen ab und schaute gedankenverloren auf die bunten Brausetütchen vor sich im Glas. Sie genoss jedes prickelnde Körnchen und achtete am Ende darauf, dass sie auch jedes davon erwischte. Auch die aus den Ecken.
Noch lange hatte sie den leckeren Geschmack der Brause im Mund. Bevor sie das Glas mit den restlichen Brausetütchen in den Vorratsschrank zurückstellte, schaute sie sich die Farbenvielfalt noch einmal genau an. Beim Schließen der Schranktür überlegte sie schon, welche Sorte sie am nächsten Tag probieren würde…
Unsere besten Geschichten zur Sinneswahrnehmung finden Sie in unserem Buch “Wahrnehmungsgeschichten”, erschienen in der SingLiesel mal-alt-werden-Edition. Die Buchvorstellung dazu können Sie sich hier ansehen.