Tourenplanung in der Sozialen Betreuung
Ein Interview mit Sabine Richartz
Liebe Frau Richartz, wir freuen uns sehr, Sie als Interviewpartnerin bei Mal-alt-werden.de begrüßen zu dürfen! Stellen Sie sich unseren Lesern doch bitte einmal kurz vor.
Vielen Dank für die Einladung zum Interview.
Gerne stelle ich mich kurz vor: Mein Name ist Sabine Richartz. Ich habe Diplom-Pädagogik an der Universität Koblenz studiert und bin seit 2013 als Leitung im Sozialen Dienst tätig. Zwischenzeitlich war ich auch als stellvertretende Einrichtungsleitung sowie als Qualitätsmanagementbeauftragte beschäftigt. Derzeit leite ich einen sozialen Dienst mit vierzehn MitarbeiterInnen und bin nebenberuflich als Autorin und Dozentin aktiv.
Die Arbeit mit Senioren, insbesondere mit demenziell veränderten Menschen und ihren Angehörigen, begeistert mich seit vielen Jahren. Bereits während eines Praktikums in der gymnasialen Oberstufe entschied ich mich für diesen Berufsweg. Der abwechslungsreiche Alltag, die Möglichkeit zur Kreativität und die kontinuierliche Optimierung von Prozessen prägen meine tägliche Arbeit. Besonders erfüllend finde ich die Begleitung und Professionalisierung von Betreuungskräften sowie die Entwicklung ihrer individuellen Stärken.
Die neue Personalbemessung der stationären Pflege ist in aller Munde. Mit der Umsetzung der neuen Personalbemessung zieht die stationäre Tourenplanung in die Einrichtungen ein. Manche unserer Leser kennen eine Tourenplanung eher aus dem ambulanten Bereich. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es bei einer Tourenplanung überhaupt geht?
Im Rahmen der Personalbemessung spricht man auch von einer „Ambulantisierung“ der stationären Pflege, bei der bewährte Elemente der ambulanten Pflege in die stationäre Pflege übertragen werden. Ein zentrales Beispiel hierfür ist die Tourenplanung. Diese Methode optimiert den Arbeitsablauf und ermöglicht es einer Pflegekraft, ihren Arbeitstag effizienter und strukturierter zu gestalten.
Die Tourenplanung sorgt dafür, dass Pflegekräfte verlässliche und wiederkehrende Strukturen in ihren täglichen Aufgaben vorfinden, was sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegekräfte selbst von Vorteil ist. Für die Pflegebedürftigen bedeutet dies eine höhere Kontinuität und Verlässlichkeit in der Pflege und Betreuung, was zu einem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit beiträgt. Für die Pflegekräfte wiederum führt die Tourenplanung zu einer besseren Planbarkeit ihrer Tätigkeiten, reduziert unnötige Wege und steigert somit die Effizienz ihrer Arbeit.
Darüber hinaus trägt die Tourenplanung zur Verbesserung der Arbeitsqualität bei, indem sie Stress und Überlastung minimiert. Pflegekräfte können ihre Aufgaben zielgerichteter und fokussierter erledigen, was sich positiv auf die Qualität der Pflege und das Wohlbefinden der Pflegebedürftigen auswirkt. Insgesamt stellt die Tourenplanung ein wesentliches Instrument dar, um die Arbeitsprozesse in der Pflege zu optimieren und gleichzeitig die Zufriedenheit und das Wohlbefinden aller Beteiligten zu erhöhen.
Die Tourenplanung ist ein Instrument, das viele Pflegekräfte zumindest kennen. Bei den Mitarbeitenden der sozialen Betreuung ist das anders. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Tourenplanung in der sozialen Betreuung einzusetzen. Wo sehen Sie die Vorteile?
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, mit einer Pflegedienstleitung zusammenzuarbeiten, die den Tourenplan für die Pflege in unserer Einrichtung eingeführt hatte. Diese systematische Planung ermöglichte eine gerechte Verteilung der Arbeit, transparente Arbeitsabläufe und eine gesteigerte Zufriedenheit sowohl bei den Pflegekräften als auch bei den Pflegebedürftigen. Ganz konkret konnte man das an der Reduzierung der Krankheitstage erkennen. Angesichts dieser positiven Erfahrungen fragte ich mich, ob ein ähnlicher Ansatz auch für die Betreuung implementiert werden könnte.
In der Folge setzte ich diese Idee in die Tat um. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in einer Einrichtung mit 45 Bewohnern und drei Betreuungskräften. Die Ergebnisse waren beeindruckend: Mit den Tourenplänen für die Betreuung und Pflege erreichten wir absolute Transparenz und konnten gleichzeitig individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner eingehen.
Ein konkretes Beispiel verdeutlicht den Nutzen für die Senioren : Eine demenziell veränderte Dame hat morgens nach der Pflege mit ihrem Gehstock ihre gesamte Kleidung aus dem Kleiderschrank geholt und schmutzige und saubere Kleidung auf ihrem Bett vermischt. Nach einem Fallgespräch legten wir feste Zeiten für die Pflege fest und integrierten unmittelbar im Anschluss daran einen Spaziergang durch die zusätzliche Betreuungskraft. Dieses strukturierte Vorgehen führte dazu, dass die problematischen Verhaltensweisen abnahmen und das Wohlbefinden der Bewohnerin signifikant verbessert wurde.
Auch für die zusätzliche Betreuungskraft entwickeln sich viele Vorteile. Durch die Transparenz der Tätigkeit minimieren sich Aussagen von Kollegen anderer Berufssparten, die implizieren wir würden nur „ein bisschen Spazieren“ oder „spielen“. Auch von Praktikanten und Berufseinsteigern habe ich nur positive Rückmeldungen erhalten, denn mit einem konkreten Ablaufplan fühlen grade diese sich sicherer.
Solche und weitere Vorteile entwickelten sich aus der Anwendung des Tourenplans. Die klaren Strukturen und individuell angepassten Abläufe ermöglichten es uns, die Bedürfnisse der Bewohner besser zu erfüllen und gleichzeitig die Arbeitszufriedenheit der Betreuungskräfte zu steigern. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wertvoll eine gut durchdachte Planung in der Pflege und Betreuung sein kann.
Kritisiert wird an der Tourenplanung häufig eine mangelnde Flexibilität. Auch dass die Tourenplanung zulasten der Beziehungsarbeit und der persönlichen Bindung gehe, haben wir schon gehört. Wie sehen Sie diese Kritikpunkte und welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gesammelt?
Meines Erachtens nach ist genau das Gegenteil der Fall: Mit dem Tourenplan gewährleistet man, dass tatsächlich die Bewohner aufgesucht werden und dadurch entwickelt sich erst Bindung.
Auch hier habe ich viele Erfahrungen gemacht. Grade wenn es um Senioren geht, die schwer zugänglich sind oder bei denen man nicht so schnell eine Bindung aufgrund von ersten Antipathien entwickeln kann, ist der Tourenplan vorteilhaft. Wir neigen schnell dazu den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und Senioren aufzusuchen, die uns sympathisch sind oder bei denen wir wissen, welche Aktivierung wir erfolgreich umsetzen können oder die uns positiv entgegentreten. Ohne Tourenplanung erhalten diese Senioren meistens mehr Aufmerksamkeit, während die „Schwierigen“, die die Betreuung dringender benötigen, weniger davon erhalten. Aus der Tatsache heraus, dass der Tourenplan auch diese Bewohner berücksichtigt, stellen wir die Betreuung grade für diese Zielgruppe sicher.
Natürlich kann man nicht erwarten, dass ein genau zeitlich durchgetakteter Tourenplan täglich so eingehalten werden kann. Es ergeben sich immer wieder Leerläufe- zum Beispiel wenn ein Bewohner die Betreuung ablehnt, Besuch hat oder im Krankenhaus ist. Ein Tourenplan ist letztendlich die Verschriftlichung des Arbeitsalltages.
Trotz guter Argumente werden Leitungskräfte der Sozialen Betreuung zum Teil auf Skepsis und Vorbehalte bei ihren Mitarbeitenden stoßen, wenn sie die Tourenplanung umsetzen möchten. Haben Sie spezielle Tipps dafür, wie man Skeptiker überzeugen und das Team gut „mitnehmen“ kann?
Ich habe bereits einige Vorteile des Tourenplans aufgezählt, aber ein weiteres Argument halte ich für besonders wichtig: Wenn die Betreuung gut und transparent geplant ist, kommt keine Pflegekraft auf die Idee, dass wir zu wenig zu tun hätten. Anweisungen wie “Mach mal, tu mal, hol mal” gehören der Vergangenheit an.
Ein klassisches Beispiel: Eine Bewohnerin ruft ständig nach Aufmerksamkeit, und die Pflegekraft erwartet, dass die Betreuung sich während des gesamten Dienstes um sie kümmert. Mit dem Tourenplan kann die Betreuungskraft jedoch auf die festgelegten Strukturen verweisen und die Leitung im Sozialen Dienst sowie die Pflegedienstleitung einbeziehen. Sollen zusätzliche Aufgaben übernommen werden, müssen diese mit dem Tourenplan kompatibel sein.
Grundsätzlich gehe ich so vor, dass wir ein Fallgespräch führen und gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen sinnvoll sind und wie diese sowohl in der Pflege als auch in der Betreuung umgesetzt werden können. Dieses Vorgehen gewährleistet, dass alle Beteiligten informiert und einbezogen sind, und es fördert eine harmonische Zusammenarbeit zwischen Pflege- und Betreuungskräften.
Durch diese strukturierte und transparente Planung wird nicht nur die Arbeitslast gerecht verteilt, sondern auch die Qualität der Betreuung und Pflege verbessert. Jeder weiß genau, welche Aufgaben wann und von wem zu erledigen sind, was zu einer effizienteren Arbeitsweise und einem insgesamt reibungsloseren Ablauf führt. Die Bewohner profitieren von einer individuell abgestimmten Betreuung, die sich an ihren Bedürfnissen orientiert, und die Mitarbeiter erleben eine klar strukturierte und unterstützende Arbeitsumgebung.
In meiner Tätigkeit als Dozentin höre ich viele Beschwerden von Seiten der Betreuungskräfte, dass trotz der gesetzlich geregelten Aufgaben der Betreuungskraft, regelmäßige hauswirtschaftliche oder pflegerische Tätigkeiten an der Tagesordnung sind. Viele Betreuungskräfte fühlen sich gegenüber den zahlreichen Anforderungen nicht gewachsen, denn wie soll eine gute Betreuung erfolgen, wenn die Betreuungskraft noch nebenbei die Spülmaschine ein- und ausräumen muss, für das Abendessen zu sorgen hat oder Arztbegleitungen unternehmen soll. Ein Tourenplan ist eine gute Option um mit den Einrichtungsleitungen ins Gespräch zu kommen, die Zeit, die für die Betreuung „übrig“ ist konkret vorzulegen und gemeinsam zu überlegen, wie die Prozesse zu optimieren seine, damit die Betreuungskraft auch tatsächlich für die Betreuung der Senioren eingesetzt wird.
Sie haben auch ein Buch mit dem Titel „Soziale Dienste in Langzeitpflegeeinrichtungen: Richtig organisieren und fachlich perfekt umsetzen“ veröffentlicht. Was hat Sie motoviert, das Buch zu schreiben und was erwartet die Leser?
Mein Ziel ist es, anderen Leitungen im Sozialen Dienst Werkzeuge an die Hand zu geben, die ihnen helfen, ihre Arbeit effizienter und strukturierter zu gestalten, die Qualität der Betreuung zu verbessern und gleichzeitig die Zufriedenheit der Pflege- und Betreuungskräfte zu steigern. Einen solchen Leitfaden habe ich selbst beim Einstieg in meine Tätigkeit vergeblich gesucht.
Durch den Leitfaden möchte ich einen Beitrag zur Professionalisierung und Weiterentwicklung des Sozialen Dienstes leisten und zeigen, dass eine gut durchdachte Planung und Organisation zu einem besseren Arbeitsumfeld und einer höheren Lebensqualität für die Bewohner führen können.
Was wünschen Sie sich von der Zukunft? Was haben Sie für Pläne?
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass unsere wichtige Arbeit mehr Wertschätzung und Anerkennung erfährt.
Derzeit schreibe ich an einem Buch, das speziell für Betreuungskräfte konzipiert ist. Mit diesem Buch möchte ich ihren Arbeitsalltag erleichtern und ihnen praxisorientierte Tipps sowie erprobte Methoden an die Hand geben. Mein Ziel ist es, einen umfassenden Leitfaden zu erstellen, der nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern vor allem praktische und sofort umsetzbare Ratschläge bietet. Damit hoffe ich, einen wertvollen Beitrag zur Professionalisierung und Unterstützung der Betreuungskräfte zu leisten.
Zusätzlich entwickle ich täglich neue und kreative Ideen für die Betreuungsarbeit. Diese Innovationsfreude bereitet mir in der Zusammenarbeit mit meinem Team große Freude und trägt wesentlich dazu bei, die Betreuung kontinuierlich zu verbessern und flexibel an die individuellen Bedürfnisse der Bewohner anzupassen. Diese kreativen Ansätze fördern nicht nur das Wohlbefinden der Bewohner, sondern stärken auch den Teamgeist und die Motivation der Mitarbeiter.
Langfristig strebe ich an, die Ergebnisse unserer Arbeit noch sichtbarer zu machen und den positiven Einfluss, den wir auf das Leben der Bewohner haben, zu unterstreichen. Durch kontinuierliche Weiterbildung und den Austausch bewährter Praktiken möchte ich dazu beitragen, dass die Betreuungsarbeit immer professioneller und effizienter wird. So können wir sicherstellen, dass wir den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind und unseren Bewohnern die bestmögliche Unterstützung bieten.
Herzlichen Dank, Frau Richartz!!!