Krimigeschichten für Senioren. Die letzte Geige
Eine neue Krimigeschichte, die von einem scheinbar perfekten Plan erzählt… Wie wird sie wohl weitergehen? Wenn Sie diese Geschichte vorlesen, lesen Sie sie einmal vorher durch und entscheiden Sie, ob sie für Ihre Zielgruppe geeignet ist. Wir wünschen viel Freude beim Vorlesen und Zuhören!
Krimigeschichten für Senioren. Die letzte Geige
Es ist Samstagvormittag. Anna putzt die Fenster. Sie hat einen neuen Fensterwischer und genießt es, dass ihr die Arbeit so viel leichter von der Hand geht als mit dem alten Wischer. Der war auch wirklich schon in die Jahre gekommen. Mit dem neuen geht alles gefühlt doppelt so schnell. Anna ist sehr zufrieden!
Gerd hingegen, läuft unruhig durchs Haus. Er brummelt Dinge vor sich hin, die Anna nicht, oder nur sehr schlecht verstehen kann. Immer wieder geht er an ihr vorbei und macht Andeutungen, dass er etwas sucht. Anna ahnt etwas, lässt sich aber nichts anmerken. “Sie kann doch nicht weg sein! Das darf doch nicht wahr sein! Etwas in dieser Größe löst sich doch nicht in Luft auf!” Als sie ihn beim nächsten Mal aus den Augenwinkeln wahrnimmt, dreht sie sich um. Es hat ja doch anders keinen Zweck: “Was suchst du denn? Kann ich dir irgendwie helfen?”
Ein schroffes “Na, meine Geige! Was sonst?” kommt zurück. Anna stutzt. Sie möchte schon mit einem aufmunternden “Naja, mir würden da schon noch einige andere Dinge einfallen” antworten, entscheidet aber, dass das zu Gerds Laune in diesem Moment nicht passen würde.
Sie probiert es mit “Na, weg sein kann sie ja nicht… Hast du sie nicht vorgestern im Geigenunterricht noch gehabt?”. “Ja, ja, ja…! Und seit dem ist sie weg. So weit war ich auch schon!”, Gerd klingt nun sehr genervt. Anna sieht ihn an. In diesem Moment scheint er zu merken, dass er sie wohl etwas schroff angegangen ist. Er atmet einmal tief durch. “Also, das letzte Mal, dass ich mit ihr gespielt habe war tatsächlich vorgestern bei Norbert im Geigenunterricht.” Er schaut sich um. “Ich weiß noch, dass ich sie danach aus dem Auto heraus mit ins Haus genommen und auf den Küchentisch gestellt habe. Danach weiß ich nicht mehr, wo ich sie als nächstes hingeräumt habe.”
Anna sieht sich um. “Wo hast du denn gestern geübt?”
“Ich hatte gestern keine Zeit zum Üben. Der Tag war so voll!”, antwortet er nervös. Er geht in Richtung Wohnzimmer und gestikuliert wild umher. Den Teil, der jetzt kommt, kann Anna schon auswendig mitsprechen. Sie schaut genervt an die Zimmerdecke und dann in den Garten hinaus. Sie versucht, Gerds Monolog auszublenden. Das gelingt ihr aber nur bedingt. Im Garten steht noch das alte Schaukelgerüst der Kinder. Obwohl die beiden jetzt schon fast zwanzig Jahre ausgezogen sind, sind sie es bisher noch nicht angegangen, das Schaukelgerüst abzubauen. Erinnerungen kommen auf. An entspannte, friedvolle Nachmittage im Garten. Kinderlachen. Sorglosigkeit.
“… ein Einzelstück. Und dann habe ich mit ihr den ersten Preis beim Landeswettbewerb gewonnen. Jeder wollte wissen, was das für eine schöne und einzigartige Geige ist.” Anna kann Gerds Schwärmereien für seinen Liebling nicht länger im Hintergrund halten. Seine Stimme dringt zu sehr zu ihr durch. “Und was sie für einen Wert hat… wenn sie nun weg ist…” Gerd geht aus dem Raum, um noch einmal in der Küche nachzuschauen. In Gedanken verdreht Anna ihre Augen. Es hilft einfach nichts. Nichts und niemand kommt an diese Geige heran. Da kann man machen, was man will. Es hilft auch nicht, sie zu ignorieren. Sie legt den Fensterwischer zur Seite und folgt ihm in die Küche. Gerd steht am Küchentisch und trommelt nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. “Wo könnten wir denn noch suchen?”, Anna versucht, Kontakt mit ihrem Mann aufzunehmen. Dieser scheint in Gedanken aber in seiner Geigenwelt zu sein und sich dort wie immer wohl zu fühlen. Anna geht zurück ins Wohnzimmer und schnappt sich den Lappen, um Staub zu wischen. Sie macht das gerne. Wenigstens sieht man hinterher, was man gemacht hat. Im Hintergrund hört sie immernoch Gerds Monolog. Er zählt die Wettbewerbe auf, die er mit seiner ach so wertvollen Geige gewonnen hat. Wie begeistert die Leute sind, wenn er darauf spielt. Wie einzigartig die Herstellungsweise seiner Geige ist. Wie hoch ihr Wert ist. Anna versucht, in Ruhe zu atmen und auf andere Gedanken zu kommen. Sie ist bemüht, sich nicht wie immer hinter der Geige zurückgestellt zu fühlen. Ihr Blick wandert wieder in den Garten. Zum Schaukelgerüst. Sie geht zum Fenster und lehnt ihre Stirn dagegen. Es ist ihr gerade egal, dass das Fenster frisch geputzt ist. Annas Atem legt sich auf der Scheibe nieder. Sie flieht in ihre Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten.
Und wird schnell wieder herausgerissen, als es in der Küche laut klirrt. Ein Glas scheint auf den Boden gefallen zu sein. Mehr hört sie nicht. Routiniert macht sie sich auf den Weg in den Keller, um einen Besen zu holen, mit dem sie die Scherben auffegen kann. Im Werkzeugkeller angekommen, macht sie das Licht an, nimmt Besen, Handfeger und Kehrschaufel und dreht sich wieder zur Tür. Sie stutzt. Macht zwei Schritte rückwärts und starrt auf den Boden. Es fährt ihr kalt den Rücken herunter. “Was machen die denn noch hier?”, murmelt sie erschrocken und muss aufpassen, dass ihr vor Schreck nicht der Handfeger aus der Hand fällt. Geschwind kniet sie sich auf den Boden und fegt die Holzspäne auf, die in der Ecke liegen. Routiniert geht sie mit dem Kehrblech zum Schrank, holt einen verschlossenen Müllsack heraus, öffnet ihn, gibt die Holzspäne hinein, verschließt ihn wieder und schließt die Schranktür. Anna schaut konzentriert auf den Boden. Ist er wirklich sauber. Sie vergewissert sich noch einen Augenblick und geht anschließend mit einem lauten und beruhigenden “Ich komme schon!” die Treppen wieder hinauf, um die Scherben in der Küche wegzufegen…