Krimigeschichten für Senioren. Der wackelnde Nierentisch

Wir wünschen Ihnen mit dieser neuen Krimigeschichte viel Freude beim Vorlesen und Zuhören!

Krimigeschichten für Senioren. Der wackelnde Nierentisch

“Schon wieder ein Wasserfleck…”, energisch tupft Luise das Wasser von der Tischplatte. Das Holz wird noch ganz und gar aufquillen, wenn das so weitergeht. Sie legt ein kleines Tischdeckchen über den Fleck. Tausende Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Wenn Werner das sieht, wird er todunglücklich werden. Mit dem Tischdeckchen, dem Kerzenuntersetzer und dem Plätzchenteller lassen sich die bisher vorhandenen Wasserflecken gut kaschieren. Der Wohnzimmertisch sieht aus wie neu!
Das Erbstück passt nicht ganz zu den Möbeln im Wohnzimmer. Werner findet, dass die Kombination aus altem und neuem sehr gut in ihr Zuhause passt. Der Tisch hat tatsächlich schon einige Jahre auf dem Buckel. Das Holz ist mit der Zeit kräftig nachgedunkelt. Das ist Luise auch schon aufgefallen. Die anderen Möbel im Wohnzimmer haben helle Fronten. Werner mag Kontraste, sagt er immer.
Der Tisch hat seiner Mutter gehört. Er stand schon als Werner klein war in deren Stube. Eines der ersten Möbelstücke, die die junge Familie sich selbst leisten konnte und nicht etwas, das von Freunden oder Familie ausrangiert und verschenkt worden war. Das hatte ihre Schwiegermutter immer und immer wieder betont. Nierentische waren in den 1960er Jahren sehr modern. Sie erzählte gerne Geschichten aus ihrem Leben. Die Kinder haben ihr, als sie noch klein waren, stundenlang zugehört und fanden die Erzählungen ihrer Großmutter unglaublich spannend. Anna hatte sie zu dieser Zeit schon so häufig gehört, dass sie sie schon auswendig mitsprechen konnte.
Sie geht in die Küche und bereitet das Mittagessen vor. Ihr Großer kommt heute zum Essen. Sie hat alles für sein Lieblingsgericht vorbereitet. Frikadellen mit Kartoffeln und Erbsen und Möhren. Auch etwas, was sie schon so oft gekocht hat. Sie hat ein paar neue Rezepte gefunden, die sie ihm angeboten und gerne ausprobiert hätte. Aber er bestand auf das Altbewährte. Anna lächelt beim Formen der Frikadellen. Sie denkt an die Zeit, die vergangen ist. Die Jahre, die so unglaublich schnell vergangen sind. Waren sie gerade noch auf dem Schulhof und sahen, wie ihr Sprössling das erste Mal alleine in die Schule ging, so steht er jetzt schon voll im Berufsleben und wird vielleicht in ein paar Jahren eigene Kinder haben, die er in den Kindergarten und die Schule bringt.
Die Fleischbällchen liegen in der Pfanne. Die Kartoffeln sind fast fertig und das Gemüse steht zum Warmhalten im Ofen. Anna summt vor sich hin. Sie geht noch einmal durchs Wohnzimmer, zupft das Deckchen auf dem Wohnzimmertisch zurecht, legt die Kissen ordentlich hin und faltet die Wolldecke. Es klingelt. Ein zufriedener Gesichtsausdruck legt sich über ihr Gesicht. Sie genießt das Essen mit ihrem Großen so sehr. Lars erzählt von der Arbeit und seiner neuen Freundin. Von den Reparaturen, die er in seiner Wohnung gemacht hat. Sie ist unglaublich stolz auf ihn.
Für den Nachtisch setzen sie sich zusammen aufs Sofa. Anna stellt die Wassergläser und Kaffeetassen auf den Tisch. “Möchtest du keine Untersetzer drunter legen?”, Lars schaut sie fragend an. Nicht, dass Flecken auf den Tisch kommen. Anna winkt entspannt ab und zwinkert ihm zu. “Ach nein, da passiert schon nichts, das kann der Tisch ab.”
Lars muss schmunzeln. “Na, ich kann mich da an einige Situationen von früher erinnern, in denen überall ein Untersetzter drunter musste. Was sich in ein paar Jahren dann so verändert…” Er zwinkert liebevoll zurück.
Und da passiert es auch. Er setzt sich und schlägt seine Beine übereinander. Lars hat lange Beine. Wasserglas und Kaffeetasse kippen um. Der Tisch ist von Kaffee und Wasser überschwemmt. Entsetzt schaut er seine Mutter an. Die eilt in die Küche und holt Tücher und Handtücher. Gemeinsam legen sie das Deckchen beiseite und stellen Teller, Gläser und Tassen auf den Boden. Die Tischplatte ist schnell wieder trocken. Ruhe kehrt ein. Lars sieht den Tisch an und deutet auf die aufgequollenen Stellen. “Oje, da hat es aber schon den ein oder anderen Unfall gegeben. Da wird Vati aber traurig sein.” Er schaut seine Mutter fragend an. Anna lächelt gequält. “Ja, das ist sehr schade. Er hat ihn ja so gern. Der Tisch wackelt seit geraumer Zeit. Und immer mal wieder kommt es vor, dass ein wenig Wasser oder Saft überschwappt. Ich weiß auch nicht, was ich noch tun soll, außer die Flecken mit Decken und Schälchen zu kaschieren.”
Lars hilft ihr, die Gläser und Tassen wieder auf den Tisch zu stellen. “So geht es ja erst einmal”, versucht er seine Mutter zu beruhigen. Im Verlauf des Nachmittags geschehen keine weiteren Unfälle.
Die Tage vergehen. Und auf dem wackelnden Wohnzimmertisch erscheinen immer mehr Wasserflecken. Werner begutachtet seinen geliebten Tisch immer kritischer. Bis, ja bis er eines Tages schweren Herzens beschließt, dass der Tisch seinen Dienst getan hat und einen neuen kauft.
Lars ist bei seinem nächsten Besuch vollkommen überrascht. “Das hättet ihr mir ja mal erzählen können, dass ihr einen neuen Mitbewohner habt!” Er grinst. “Da stand doch jahrelang nichts anderes im Wohnzimmer.” Und er fügt schmunzelnd hinzu: “Na, ob ich mich daran gewöhnen werde?” Er zwinkert seiner Mutter zu.
Werner erzählt von den Wasserflecken und dem wackelnden Tisch. Und dass er sich schweren Herzens hat trennen müssen. Dass ihm die Trennung von diesem Andenken schwer gefallen ist. Dass es aber auch irgendwie weitergehen muss…und dass der neue Tisch ja jetzt auch genau zu den Möbeln passe. Er würde schon ein neues Möbelstück finden, dass einen Kontrast zu den beständigen bietet.
Anna sitzt mit betroffener aussehender Miene daneben. “Ja, das ist wirklich sehr schade.”, sie streichelt ihrem Mann über den Arm. Werner atmet tief ein und scheint sich zusammen zu nehmen. “So, wer möchte denn eine gute Tasse Kaffee haben?” Er versucht, ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern. “Da sag ich nicht nein!”, wirft Lars begeistert ein. Werner verschwindet in der Küche.
Lars schaut seine Mutter an. Beide sitzen auf dem Sofa. Anna verzieht immer noch keine Miene. Er lehnt sich zu ihr herüber und lächelt milde. “Du, Mama.”, er wartet einen Augenblick, bis sie ihn ansieht. Dann flüstert er weiter, so dass Werner ihn in der Küche nicht hören kann. “Du weißt schon, dass ein Nierentisch nicht wackeln kann..?”

Annika

© by Annika Schneider. Staatlich examinierte Ergotherapeutin, Chefredakteurin von Mal-alt-werden.de. Bücher von Annika Schneider finden Sie hier.

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