Mit Musik in die Erinnerung…

Im Gespräch mit Silvia Stelzer

Stelzer_Tanz

 

Hallo Frau Stelzer, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.

Ich bin Diplompädagogin und habe das Glück Menschen von kleinauf bis ins hohe Alter musikalisch zu begleiten. Ich unterrichte geistig behinderte Kinder und Jugendliche an einer Förderschule. Desweiteren musiziere ich mit Kindern im Kindergarten und führe wöchentlich musikalisches Seniorensingen in Seniorenheimen durch. Oft werde ich gefragt: “Wie machst du das nur? Die Menschen haben verschiedene Behinderungen, Demenzen, Eigenarten?“ Dann antworte ich: „Mit Musik geht alles besser“.
Ich kann über Musik Wissen vermitteln, an frühere Erlebnisse, wie Wäsche waschen oder Handwerkeln erinnern oder zu lebenserheiternden Bewegungen animieren.

 

Sie haben mit dem Komponisten Klaus Feldmann eine CD für Menschen mit Demenz produziert. Meine Kollegin und ich hatten bereits die Möglichkeit, in die CD hereinzuhören. Erzählen Sie unseren Lesern von Ihrem Projekt…

Diese CD spendet Senioren, dementen Menschen und Alzheimerpatienten Lebensfreude.
Sie enthält 17 Titel mit

– Bewegungsliedern („Fröhliches Tanzlied u.a.)
– Hörgeschichten („Ein Tag im Wald“ – mit Entspannungsmusik und Geräuschen unterlegt)
– biografischen Liedern, die an frühere „Kulturtechniken“ erinnern (Einwecken, Wäsche waschen
mit Waschbrett, Stricken).

Text und Musik sind heiter und bringen die Zuhörer auch zum Lachen.
Die Lieder enthalten Bewegungsimpulse und aktivieren Senioren sowohl körperlich, als auch geistig.

Sie ist für Pflegekräfte Betreuer, Therapeuten und pflegende Angehörige ein praktikables Arbeitsmaterial . Zur CD gibt es Handlungsanleitungen mit einer Fülle von Ideen und Anregungen.

Da Musik bekanntlich schlau macht, bietet es sich an, dass die Senioren die Lieder mit den Enkeln/Urenkeln singen. So lernen die Kinder, wie es früher war. Das bietet Gesprächsstoff und eine vergnügte musische Atmosphäre.
Klaus Feldmann und ich fanden das Musikprojekt so spannend. Es war ein großes Vergnügen gemeinsam eine Idee verwirklichen, an Text und Musik zu feilen und mit Geräuschen abzurunden. Wir haben uns professionelle Sänger und Sprecher gesucht, ein Tonstudio gemietet und alles privat finanziert.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine solche CD zu produzieren und dieses Projekt zu verwirklichen?

Ich wurde von einer staatlichen Musikschule beauftragt, Musikstunden in Seniorenheimen durchzuführen. Ich erlebte folgende Ausgangssituation: Die Senioren wurden in den Speisesaal, in dem die Musikstunde stattfindet, hereingefahren. Die Senioren sind in ihrem Rollstuhl teilweise zusammengesunken und es herrscht teilweise eine phlegmatische Stimmung.
Wie kann ich die Senioren aktivieren? Ich beobachtete die Senioren und stellte fest: Musik – gepaart mit sinnvoller !!! Bewegung lässt Lebensgeister wieder sprießen.
Also war ich auf der Suche nach Liedern, die die Senioren zu Bewegungen animieren und zugleich an Früheres erinnern. Nur fand ich wenig geeignetes Material, bei dem sich Senioren „zu einem Thema“ bewegen, z.B. die Leiter beim „Obsttango“ emporklettern und die Kiepe aufsetzen und nach Hause marschieren.
Daher schrieb ich Texte, in die die Bewegungsimpulse „eingeflochten“ sind. Diese Bewegungen können die Senioren sofort mitmachen. Somit ist jeder – und sei er noch so dement ein Gewinner. Ein Erfolgserlebnis ist augenblicklich garantiert.
Meine Texte hatten das Glück von dem bekannten Komponisten Klaus Feldmann vertont zu werden. Normalerweise komponiert er klassische Musik und ist als Gitarrenvirtouse in der ganzen Welt unterwegs. Daher ist es etwas Besonderes, dass er diese Texte vertonte. Er setzte sich sehr gründlich mit den musikalischen Bedürfnissen der Senioren auseinander. So liegt z.B. jedem Lied dieser CD ein „Tanz“ zugrunde. Viele Senioren erinnern sich noch heute gern an die Zeit der Tanzstunde . Daher ist der „Grundrhythmus“ z.B. ein Rheinländer oder eine Polka u.s.w. Das erkennen die Senioren sofort und sagen:“Ach ja, das ist doch eine Polka…….“ Das erzeugt Glücksgefühle; genau das wollen wir erreichen. Klaus Feldmann hat mit viel Akribie authentische Geräusche gesucht oder live aufgenommen, z.B. den Kuckucksruf in der Hörgeschichte:“Ein Tag im Wald“. Was fällt uns beim Kuckucksruf ein ? :“Ach, ja, richtig, man muss dreimal aufs Portemonnaie klopfen, damit das Geld nicht ausgeht“………
Oder auch Geräusche bei den biografischen Liedern, die an Früheres erinnern: Da hört man Gläserklappern beim „Einwecklied“ oder das Schnaufen einer Dampflok beim „Eisenbahnlied“.
Die Erinnerung an früher ist sofort gegenwärtig. Dann werden Erfahrungen ausgetauscht und die Senioren kommunizieren miteinander. Damit werden die Senioren sowohl körperlich als auch geistig aktiviert.

Sie arbeiten selbst mit Menschen mit Demenz. Wie setzen Sie Musik und Texte ein und was beobachten Sie bei den Teilnehmern?

Sobald wir uns zu den Liedern bewegen, wird die Grundstimmung heiter und die Beschwerden sind für einen Moment vergessen. Die Lieder enthalten Bewegungsimpulse, z.B.: „Die Hände schlagen über Kreuz, das geht gut, ihr lieben Leut“. Ich zeige den Senioren während des Liedes die Bewegungen und automatisch machen die Senioren alles nach. Da jede Bewegung vorher „durch den Kopf gehen musste“, ist das wie eine Frischzellenkur für das Gehirn, da sowohl der Kopf – in Abstimmung mit dem Körper etwas zu tun hat.
Es gibt auf der CD auch Lieder, die an Früheres erinnern, z.B. beim „Wanderlied“.
Dann packen wir einen Wanderrucksack aus mit Wanderkarte, Wanderschuh, Jagdhorn, Fernglas, Brotkanten für die Rast, Flachmann. Die Herren Senioren beschweren sich dann immer, dass der Flachmann leer ist. Das sorgt für Gelächter – wunderbar !, Lachen ist die beste Medizin. Den Brotkanten geben wir herum und jeder darf sich ein Stück „abknaupeln“. Eine demente Dame gab den Brotkanten einmal nicht weiter. Das Brot duftete und glänzte, es war innen weich. Sie strich immer wieder über die glänzende Rinde. Woran hat das Brot sie erinnert ? An Hunger oder ihren alten Dorfbäcker oder an selbstgebackenes Brot ?; sie gab es einfach nicht weiter. Gut so – ich habe damit eine Reaktion – welche auch immer, ausgelöst. Zum Glück gebe ich solche Dinge immer von zwei Seiten in die Runde, so dass alle etwas vom Brot teilen konnten.

 

Stelzer_Wanderlied

 

Haben Sie bereits neue Projekte für Menschen mit Demenz ins Auge gefasst?

Ja, hier sollen weitere Projekte folgen, bei denen andere Bewegungselemente mit Musik eingebunden werden; verstärkt mit einfachen, praktikablen Hilfsmitteln, die in jeder Senioreneinrichtung zur Verfügung stehen. Welche Lieder/Themen werden gewünscht ?
Gern nehmen wir „Hilferufe“ aus der Praxis entgegen.

 

Können Sie uns vielleicht eine kleine Anekdote oder Geschichte erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Ihrer Arbeit erreichen können?

Darüber könnte ich ein Buch schreiben, denn jede Woche werde ich von den Senioren mit Erlebnissen/Reaktionen überrascht.
Hier ein Beispiel, wie Senioren über die Musik in Kontakt kommen:
Ein neuer Bewohner – aus Sibirien stammend, saß in unserer Musikstunde. Die Eingewöhnung fiel ihm, auch wegen sprachlicher Barrieren schwer; er weinte bitterlich. Beim „Schunkellied“ verteilte ich bunte Chiffontücher zum Mitschwingen. Da der Herr dement ist und auch solche Tücher nicht kannte, wischte er sich damit die Tränen ab; er dachte, es sei ein Taschentuch. Die (demente) Dame neben ihm winkte mit dem Tuch freundlich zu und sagte: „Vsjo budjet charascho“ (zu deutsch: „Alles wird gut“.) Sie war nämlich früher Russischlehrerin. Ein Strahlen ging über sein Gesicht. Sie hielt ihr orangefarbenes Tuch zu ihm hin; nun faßten beide das Tuch an und schwangen das Tuch im Rhythmus des „Schunkellieds“. Nun lachte er und konnte den Blick von „seiner“ Russischlehrerin gar nicht abwenden. Das sind Sternstunden !

 

Stelzer_Handhalten

 

Was wünschen Sie sich von der Zukunft?

Ich wünschte mir mehr Offenheit für Projekte unserer Art. Wünschenswert wäre auch die Mitwirkung eines Verlags, denn das Thema Demenz ist ein Aufbruchthema. Die Zahl der Höherbetagten und Dementen wird sich laut demografischen Prognosen drastisch steigern. Es ergibt sich für die kulturelle Betreuung ein großer Handlungsbedarf. Da mit Musik alles besser geht, ist unsere CD mit Liedern, die voller Anregungen stecken, ein praktikables Material für Therapeuten, Sozialbetreuer und Pflegekräfte. Oft bekomme ich zu hören: „So etwas haben wir schon!“ Wenn ich dann Einsicht nehmen darf, sehe / höre ich viel Volksmusik. Das allein erzeugt aber nicht zwangsläufig Aktivität bei den Senioren.
In unseren Liedern werden alle Sinne angesprochen und auf heitere Weise gedanklich mitgenommen. Einige Therapeuten/Sozialbetreuer setzen die CD schon erfolgreich ein.
Es wäre toll, wenn viele von der CD erfahren. Ich habe zu jedem Lied eine Handreichung mit einer Fülle an Ideen und Anregungen geschrieben.
Auch für Ausbildungsstätten der Altenpflege wäre es ein praxisorientiertes Lehrmaterial.
Über ein Feedback würden wir uns sehr freuen.

 

Herzlichen Dank, Frau Stelzer!!!

 

Zur Internetseite: www.wortprojekte.de

Annika

© by Annika Schneider. Staatlich examinierte Ergotherapeutin, Chefredakteurin von Mal-alt-werden.de. Bücher von Annika Schneider finden Sie hier.

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