Mit Musik geht Alltag besser…
Eine musikalische Reise mit Simone Willig
Hallo Frau Willig, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.
Mein Name ist Simone Willig, ich bin 39 Jahre alt und l(i)ebe meinen Traumberuf als Musiktherapeutin. Neben der Musik in Hobby und Beruf bin ich eine leidenschaftliche Postkarten-Sammlerin, besitze aktuell an die 3000 Stück aus aller Welt und freue mich über jede, die hinzukommt.
Sie sind Diplom-Musiktherapeutin. Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben und wann haben sie entschieden, diesen Weg einzuschlagen?
Ich mache seit meinem 5. Lebensjahr Musik und bin dabei geblieben (obwohl ich eigentlich nur zum Unterricht gegangen bin, weil ich für den Nachhilfeschüler meiner Mutter schwärmte – und der ging im Anschluss immer in die Orchesterprobe). Ein Seminar über Musik und Psychologie im Rahmen des Musikleistungskurses hat mein Interesse an Musiktherapie geweckt, so habe ich mich konsequent auf den Beruf vorbereitet.
Einer der Schwerpunkte Ihrer Arbeit liegt in der Begleitung von Menschen mit Demenz. Was kann die Musik erreichen, was wir in anderen Therapien oder der Betreuung nicht erreichen können?
Die Wahrnehmung akustischer Reize erfolgt auf basalen Stufen der neurophysiologischen Informationsverarbeitung im Gehirn, zu deutsch, das Gehirn bedarf keiner komplexen Fähigkeiten, um Musik zu verstehen. Darüber hinaus ist – wie Forschungsergebnisse zeigen – Musik ein neuronaler Vernetzer, sie nutzt verschiedene Hirnregionen zur gleichen Zeit und aktiviert emotionale Zentren im Gehirn. Damit verfügt Musik über die Eigenschaft, auch schwersthirngeschädigte Menschen zu erreichen. Menschen mit Demenz spüren immer, ob eine Situation sich angenehm oder unangenehm anfühlt. Diese Fähigkeit des Gehirns lässt sich mit Musik unterstützen.
Warum spielt die Musik in unserem Leben eine so wichtige Rolle?
Musik ist ein Stück Identität. Wie ein roter Faden begleitet sie uns unser Leben lang und ist untrennbar an Emotionen geknüpft. Eine Mutter wird stets versuchen, ihr Baby mit Singsang zu beruhigen. Babys erkennen die Stimme der Mutter an deren Klangfarbe. Singen wir gemeinsam mit anderen Menschen, so passt sich unser Herzschlag dem Rhythmus der Musik an und schlägt gemeinsam mit denen der anderen Sänger im Takt. Wir werden uns zeitlebens an die Musik erinnern, zu der wir gemeinsam mit unserer ersten großen Liebe getanzt haben. Musik entwickelt Identität und Musik erhält Identität.
Sie halten am 12.07. in Siegen ein Seminar mit dem Thema „Mit Musik geht Alltag besser“. Können Sie die Inhalte kurz zusammenfassen?
Das Seminar vermittelt Hintergründe für den gezielten und sinnstiftenden Einsatz von Musik. Wann ist ihr Einsatz sinnvoll und warum? Wann ist er völlig fehl am Platze für die Erhaltung von Lebensqualität? Wie kann ich mit Musik Alltagssituationen (z.B. beim Essen und Trinken) unterstützen und wie geht das?
Können Sie vielleicht eine kleine Anekdote oder Geschichte erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Hilfe der Musik erreichen können?
In der Musiktherapie geht es nicht um die Musik. Es geht um ihren Einsatz zum Erreichen der Ziele der Pflege und Betreuung, der Angehörigen, es geht um das Wohlergehen der Menschen mit Demenz, um Selbstbestimmung und den Erhalt der Identität. Ein kleines Beispiel dazu aus meinem Buch: S. Willig, S. Kammer: „Mit Musik geht vieles besser – der Königsweg in der Pflege bei Menschen mit Demenz“, Vincentz 2012*:
Im Teamgespräch machen sich alle Sorgen um Frau Leise. Seit einigen Tagen schon verweigert die verwirrte alte Dame ihr Abendbrot. Defizite in Form von Apraxien bei fortschreitender Demenz können ausgeschlossen werden, Frau Leise nimmt Frühstück und Mittagessen selbständig ein, lediglich das Abendessen rührt sie nicht an und geht hungrig zu Bett. Auch andere Angebote der Küche verweigert sie daraufhin vehement. In der Musiktherapie erklingt der Schlager „Oh mein Papa“ auf dem Grammophon. Mit dem Knistern und Rauschen der alten Schallplatte werden Erinnerungen wach. Auch bei Frau Laut. Der Vater, streng sei er gewesen, ein großer stattlicher Mann. In einer Käserei habe er gearbeitet. Käse, ja den habe es immer gegeben. Käse satt. Auch in den schlechten Zeiten. Evchen, habe es geheißen, da hast Du Käse. Der wird aufgegessen. Käse. Wie sie sich manchmal geekelt habe vor dem Geruch. Immer nur Käse.
Käsebrot-gut gemeint, liebevoll angerichtet auf dem Teller neben dem Salat und einem Wurstbrot. Auslöser für den verschütteten Ekel, der es Frau L. unmöglich machte, anderes auf ihrem Teller noch anzurühren. Und die Demenz, die es ihr unmöglich machte, diesen Ekel zu kommunizieren, sich mitzuteilen, auszudrücken, dass sie Käse nicht mag.
Ein zufällig erklungenes Lied wird zum Schlüssel für ein zentrales biografisches Ereignis, das Frau Lauts Verhalten verstehbar werden lässt und gleichzeitig die Lösung bietet. Musik schafft Verbindung zwischen Erinnerung und Emotion, zwischen damals und heute, denn sie ist ein Spiegel der persönlichen und kulturellen Identität.
(Willig in Willig: Mit Musik geht vieles besser, Vincentz 2012, S. 9/10)*
Was wünschen Sie sich von der Zukunft?
Dass Menschen mit Demenz mit gesundem Menschenverstand und Einfühlungsvermögen begegnet anstelle von immer mehr Methoden, Modellen und Spielen. Und dass mich mal jemand fragt, was hast Du erlebt, wenn ich alt bin.
Herzlichen Dank, Frau Willig!!!
Zur Internetseite: www.simonewillig.de