Wie fühlt sich dement sein eigentlich an?
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Heidenore Glatz über Demenz, Entspannung, Wohlfühlen und ihren kleinen Verlag
Hallo Frau Glatz, Sie haben einen kleinen Verlag, der (auch) Bücher für Menschen mit Demenz und Senioren veröffentlicht. Was verbindet Sie selbst mit dem Thema Demenz?
Bei meiner damals noch ehrenamtlichen Tätigkeit (ich leitete zwei Mal pro Woche eine Sturzpräventionsgruppe) wollte ich den Menschen, die sich dementiell immer mehr veränderten, richtig begegnen und sie verstehen lernen. Deshalb belegte ich erste Kurse über Demenz und nutzte diese für die weitere Betreuung von Demenzkranken.
Meine Mutter, die nach zwei Schlaganfällen eine anfängliche Demenz entwickelte, sagte eines Tages verzweifelt zu mir: „Ich habe das Gefühl, in mir lebt ein anderer Mensch und ich kann es nicht mehr steuern.“ Dieser Satz hat mich sehr erschüttert, und ich versuchte mich in ihre Gedanken hineinzufühlen. Ich stellte mir die Frage, was wohl in einem Menschen vorgeht, wenn er merkt, dass ihm das eigene Ich entgleitet. Damals verfasste ich meinen ersten Text, „Das andere Ich“, weinend im Garten.
Später gründete ich ein „Café Memory“, eine Nachmittagsbetreuung mit viel Freude, Beschäftigung, Aktivierung, Bewegung und natürlich Kaffee und Kuchen. Zur gleichen Zeit gründete ich auch ein neues „Erzählcafé“ für noch recht agile Senioren, eine Art biografischer Nachmittag. Zur Zeit leite ich Workshops zum Thema Demenz für Fachpersonal oder Angehörige.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen eigenen Verlag zu gründen?
Nach Mutters Tod hatte ich das Bedürfnis, all das, was mich bewegte, in einem Arbeitsbuch zusammenzufassen, als Hilfestellung für andere in ähnlichen Situationen. Daher wurde es erstmal ein Ringbuch mit Texten für den Betreuenden, mit Abbildungen zum Anschauen mit dem Erkrankten als Anregung zum Erzählen. Es war aus vielen Beobachtungen und eigenen Erfahrungen entstanden. Mein Ziel war, den Zugehörigen auf einfache, einfühlsame Art ein Verständnis für die Krankheit zu vermitteln. Reine Fachbücher gibt es sehr viele.
Leider fanden die Verlage, die Bücher zum Thema Demenz herausgeben, damals keinen Platz für meine ganz anderen, mit Liebe verfassten Worte und die Inhalte, in denen die Grenzen zwischen Literatur und Fachbuch fließend sind. Also habe ich es mit Hilfe guter Freunde gewagt, alles selbst in die Hand zu nehmen. Die erste Auflage ließ ich im Selbstverlag drucken und bei der 3. Auflage gründete ich selbst einen kleinen Verlag.
Wie fühlt sich dement an? Diese Frage ist der Untertitel eines Ihrer Bücher. Was ist die Antwort und woher wissen Sie das?
Mit dem Buch will ich vor allem eine neue Sichtweise auf den Erkrankten vermitteln.
Es wäre anmaßend zu behaupten, dass ich genau weiß, wie sich der an Demenz Erkrankte fühlt, der mir gerade gegenübersitzt. Das kann keiner wirklich wissen. Da ich ein empathischer Mensch bin, habe ich versucht, mich in die Menschen hineinzuversetzen und zu erspüren, was in ihnen vorgeht.
Einige, darunter auch meine Mutter, konnten mir in den Anfängen ihrer Krankheit noch viel über ihr Empfinden erzählen. Und es mussten einige Jahre vergehen, in denen mir viele Menschen mit Demenz sehr nahe standen, so dass ich sie mit dem Herzen wahrgenommen habe. Viele unvergessliche Begegnungen und Erfahrungen haben mich dann bewogen, dieses Buch aus ihrer Sicht, der Sicht des Kranken zu schreiben. Meine Hoffnung war, dass es für die Betreuenden einfacher zu verstehen ist und sie sich besser in ihr Gegenüber versetzen konnten.
Gerade ältere Angehörige haben manchmal nicht die Zeit und Muße, sich durch Fachbücher zu wälzen. Und doch fehlt ihnen das Verständnis für viele Äußerungen oder das Verhalten ihres Nächsten, der sich vor ihren Augen zunehmend verändert. Deshalb habe ich viele Bereiche des täglichen Lebens in bewusst kurzen Texten aufgegriffen und zusätzlich das Buch bebildert. Somit besteht auch die Möglichkeit, sich die Bilder anzuschauen und darüber zu reden.
In dem Buch „Ich bin jetzt anders! Wie fühlt sich dement an?“ finden sich auch kurze Fantasiereisen, die ich für Bettlägerige in einem Pflegeheim geschrieben hatte, um ihnen die Natur ins Zimmer zu bringen. Eine Pflegekraft sagte mal ganz gerührt: „Danke, dass du uns wieder gezeigt hast, das Augenmerk auf bestimmte wichtige Dinge zu legen. Denn in der Hektik und vor lauter Dokumentation geht manches leider verloren.“ In der dritten Auflage sind auch Kurzgeschichten in einfacher Sprache angefügt.
Vor ein paar Jahren lernte ich die Autorin Helga Rohra kennen, eine bemerkenswerte Frau, die im Alter von 54 Jahren an Demenz erkrankt ist und sich bis heute weltweit für die Belange an Demenz erkrankter Menschen einsetzt. Ich wollte wissen, wie sie mein Buch empfindet. Sie sagte nur: „Von dir würde ich gerne betreut werden.“
In einem Ihrer Bücher haben Sie Geschichten zum Erinnern und Wohlfühlen veröffentlicht. Was brauchen Menschen mit Demenz, um sich wohlzufühlen?
Es ist sehr wichtig, den erkrankten Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Besonderheiten in den Mittelpunkt zu stellen, ihn wahrzunehmen und ihm auf seiner Gefühlsebene zu begegnen. Sie ist die einzige, auf der er bis zuletzt ansprechbar bleibt, auch mittels Literatur und Musik. Wenn wir auf seine individuellen momentanen Bedürfnisse eingehen, seine noch vorhandenen Fähigkeiten fördern und wertschätzend mit ihm kommunizieren, können wir ihm sehr nahe kommen.
Eine umfangreiche Biografiearbeit hilft, seine Ressourcen kennenzulernen und zu nutzen, indem wir entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten. Geschichten können ihn ein Stück weit in die Zeit zurückführen, in der er sich sicher gefühlt hat, die für ihn noch in Ordnung war. Ein an Demenz erkrankter Mensch braucht Geborgenheit, Regelmäßigkeit und Orientierungshilfen, die ihm eine gewisse Form von Sicherheit vermitteln.
Den Schwerpunkt legen wir nicht auf das, „was“ er macht, sondern auf das, „wie“ er sich dabei fühlt. Wohlbefinden zu fördern mit für ihn schönen Erlebnisse sowie Akzeptanz seiner Empfindungen und die Wertschätzung seiner Persönlichkeit sollten einen wichtigen Teil in der Begleitung von Demenzkranken ausmachen.
Können Sie drei Gründe nennen, aus denen Geschichten für Menschen mit Demenz ein wertvoller Bestandteil der Pflege und Betreuung sein können?
Geschichten wecken Erinnerungen und können momentane Glücksgefühle auslösen. Sie können Türöffner zu Gesprächen, Austausch oder einfachem Erzählen sein. Und Geschichten können beruhigend wirken: Schon allein das Empfinden „jemand schenkt mir Zeit, ich bin ihm wichtig“ ist für einen an Demenz Erkrankten ein Lichtblick an dem Tag.
Können Sie Menschen, die in der Betreuung von Menschen mit Demenz arbeiten, drei Tipps geben, wie sie Geschichten einsetzen können?
Wenn man biografisch möglichst viel über den an Demenz Erkrankten weiß, kann man eine Geschichte wählen, die etwas mit seiner Vergangenheit gemeinsam hat: sei es in Familie, Beruf oder Hobby.
Verstärken lässt sich die Aussage einer Geschichte mit Sinnesreizen: Man kann einen Gegenstand mitbringen, sei es zum Fühlen, Riechen, Hören oder einfach nur Anschauen.
Wichtig ist, dass die Geschichten in einfacher Sprache und langsam vorgelesen werden. Schwierige Sachverhalte, Formulierungen oder Fremdwörter werden oft nicht mehr verstanden. Bei solcher Lektüre ist es besser, die Geschichte mit einfachen Worten nachzuerzählen.
Welche Themen sind für Menschen mit Demenz besonders interessant? Wie haben Sie die Themen für Ihre Buchreihe ausgewählt?
Bei den Geschichten im Buch „Ein Pfund Zwetschgen, bitte!“ hatte ich nicht nur an Demenz Erkrankte im Blick, sondern ältere Menschen im Allgemeinen. So habe ich mir überlegt, was ihnen Freude machen könnte, was sie bewegt, welche Berufe, Hobbys sie gehabt haben könnten oder was sie heiter stimmen würde. Vieles ist frei erfunden, aber einige Geschichten sind auch aus meinem eigenen Leben niedergeschrieben.
Das Buch ist gut zum Vorlesen geeignet. Ich selbst lese oft in Seniorenkreisen daraus und bekomme viel Freude von ihnen zurück. Der Humor ist natürlich ein wichtiger Teil bei solchen Nachmittagen.
Besondere Themen für an Demenz Erkrankte gibt es so nicht. Besser ist es, ein Augenmerk auf die Biografie zu legen und auf die Länge des Textes. Es gibt in den sieben Kapiteln –Kindheit und Jugend, Berufsleben, In Haus und Garten, Vom Miteinander, Närrische Zeit, Urlaub sowie Advents- und Weihnachtsgeschichten – unterschiedliche einfache Geschichten.
Was wünschen Sie sich von der Zukunft? Welche Pläne haben Sie?
In den Workshops für Aktivierung und Beschäftigung möchte ich noch möglichst vielen Menschen mein Wissen weitergeben. Dies in der Hoffnung, dass sie den Mut und die Freude haben, meine Tipps anzuwenden und dem zu Betreuenden zunehmend mit Liebe und Wertschätzung begegnen. Dann ist es auch für mich ein Geschenk.
Meine Wünsche für die Zukunft, gerade in der momentanen Zeit, sind vorrangig Gesundheit für meine Familie, für mich und für Sie alle. Viele neue Ideen, auch für Bücher, bewegen mich, aber noch will ich mich nicht festlegen, welche ich als erste aufgreife und verwirkliche.
Herzlichen Dank, Frau Glatz!
Zur Internetseite: Aspera-Verlag