“Gemeinschaft fördert Sicherheit und Vertrauen”
Im Gespräch mit Björn Preuß über die Lebens- und Wohnraumgestaltung in Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz
Hallo Herr Preuß, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.
Mein Name ist Björn Preuß, ich bin am 12.07.1972 geboren und lebe in Wattenscheid. Nach meiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann war ich Zivildienstleistender in einer ambulanten Pflege und entschied mich im Anschluß für eine neue Ausbildung zum Altenpfleger. Die Arbeit mit älteren Menschen, insbesondere mit an Demenz erkrankten Menschen, bereitet mir noch immer große Freude. Später besuchte ich die Fortbildung zur Praxisanleitung, machte die Weiterbildung „Palliative Care“ und startete 2011 als Wohnbereichsleitung mit der Aufgabe, einen Wohnbereich mit mittel- bis schwerer Demenz, sowie herausfordernden Verhalten aufzubauen.
Für viele Senioren und Menschen mit Demenz sind Pflegeeinrichtungen das Zuhause, in dem sie ihren Lebensabend verbringen. Pflegende und Betreuende haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen diesen Lebensabschnitt so angenehm wie möglich zu gestalten. Dazu gehören eine wertschätzende Begleitung, eine bedürfnisorientierte Beschäftigung im Alltag und auch eine angemessene Gestaltung der Wohnräume.
Was sind Dinge, die man bei der Wohnraumgestaltung für Menschen mit Demenz unbedingt beachten sollte? Welche Rolle spielt dabei die Biografie der Betroffenen?
Aus der Erfahrung des Wohnbereiches kann ich empfehlen, sich zuerst Gedanken über das Zusammensein zu machen. Gemeinschaft fördert Sicherheit und Vertrauen. Man benötigt etwas für die Bewohner/innen, wo gemeinsam gegessen, gesungen, gesprochen und geklönt werden kann. Eine lange Tafel, an denen die Bewohner sich gegenüber sitzen können, ist da sehr von Vorteil.
Im Anschluß daran, gestalten sie doch einfach das Umfeld mit Dingen / Möbeln, die für die Menschen mit Demenz wichtig waren und noch immer sind. Wenn sich Möbel aus einer bestimmten Zeit auf dem Wohnbereich befinden, trägt das zu einer angenehmen Atmosphäre bei. Große Lampenschirme, Vitrinenschränke und Sideboards sind sehr vertraute Möbel, die allerdings nur dann Sinn machen, wenn Bewohner/innen diese auch benutzen, anfassen dürfen. Unsere Möbel auf dem Wohnbereich sind jederzeit zugänglich, dürfen und sollen genutzt werden. Beliebt sind vor allem buntes Porzellan, die sogenannten Sammeltassen, die aus den Schränken genommen werden und mit dem Rollator an einen anderen Ort gelangen.
Das Thema Biografie bereitet uns zurzeit jedoch Schwierigkeiten! Ein Generationswechsel findet statt! Die Menschen die nun zu uns kommen haben die Nachkriegszeit nicht mehr oder nur zum Teil erlebt und teilen sich den Wohnbereich. Es kann dann schon mal von der jüngeren Generation vorkommen, dass über das alte Möbelstück geschimpft wird. Die Alterspanne in unserer Einrichtung liegt derzeit zwischen 68 – 103 Jahren.
Welche positiven Auswirkungen haben eine bedürfnisorientierte Lebens- und Wohnraumgestaltung auf das (Er-)Leben der Betroffenen und den Alltag in Pflegeeinrichtungen?
Es ist eine wesentlich entspannte Stimmung auf den Wohnbereichen. Die Bewohner/innen sind ausgeglichen und die Hinlauftendenzen reduziert. Selbstverständlich macht sich auch hier hin und wieder ein Bewohner auf den Weg nach Hause, aber solche Situationen kommen nicht mehr täglich vor. Für Bewohner, Angehörige und die Mitarbeiter ist das eine angenehmere Situation.
Wodurch werden, Ihrer Erfahrung nach, demenziell veränderte Menschen eher verunsichert?
Grundsätzlich sind häufig wechselnde Pflegekräfte nicht von Vorteil. Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, benötigen gleichbleibende Strukturen. Wenn jeden Tag eine neue Pflegekraft vor Ort ist, bringt das eher Unbehagen.
Ebenso wichtig ist die Atmosphäre in den Aufenthaltsräumen. Achten Sie darauf, dass die Musik nicht ununterbrochen läuft. Eine Ruhephase tut allen Beteiligten gut. Was Sie allerdings stets gut einsetzen können ist ein Fernsehgerät auf dessen Bildfläche ein Aquarium mit Fischen zu sehen ist. Dies stört nicht und kann immer mal wieder mit einer Pflegekraft zur Aufmerksamkeit genutzt werden.
Sämtliche Einrichtungen, die für einen an Demenz erkrankten Menschen neu sind, sind zuerst einmal beängstigend. Fremde Geräusche und Gerüche, viele unbekannte Gesichter und andere Tagesabläufe können Unruhe auslösen, bis hin zum Verlassen des Hauses führen. Deswegen ist es so immens wichtig, einen Menschen mit Demenz bei einem Einzug in eine Alteneinrichtung oder in ein Krankenhaus zu begleiten. Er benötigt wesentlich mehr Verständnis und Zuwendung, da er seine Umwelt nicht mehr verstehen kann. Gelingt dies in den ersten Tagen, dann wird sich der an Demenz erkrankte Mensch etwas sicherer und geschätzt fühlen.
Passend zum Thema haben Sie im Verlag an der Ruhr das Buch Lebens- und Wohnraumgestaltung in Pflegeeinrichtungen* veröffentlicht. Alles, was Sie hier im Interview oder in Ihrem Buch beschreiben, klingt so plausibel und richtig, und sollte für die Gestaltung von Pflegeinrichtungen für Senioren und Menschen mit Demenz doch eigentlich selbstverständlich sein.
Warum werden derartige Konzepte dennoch in vielen Altenpflegeeinrichtungen Ihrer Meinung nach noch nicht, oder nur teilweise umgesetzt?
Es wird viel mehr umgesetzt, als wir vermuten. Es gibt mittlerweile nicht nur Einrichtungen, die sich sehr um das Wohlergehen von an Demenz erkrankten Bewohnern kümmern, sondern auch Krankenhäuser. Ein Beispiel dazu: Eine Kollegin von mir kümmert sich um Patienten mit Demenz und die Problematik der Operation. Hier werden neue Ansätze gemacht, die sich nicht nur mit der Schwierigkeit der Voll- / Teil- Narkose beschäftigen, sondern auch mit dem Thema: Was benötigt der Erkrankte vor bzw. nach einer Operation, um sich wohl zu fühlen? Gibt es besondere Eigenarten des Erkrankten und wie können diese gelindert werden? Es wurde ein Konzept entwickelt, um den Umgang mit Demenz erkrankten Menschen von Ärzten, Pflegepersonal etc. weitestgehend zu erleichtern.
Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Jahren viel mehr Einrichtungen, Krankenhäuser und Reha-Kliniken Konzepte vorweisen werden. Das Thema Demenz ist aktueller, als man vielleicht meint!
Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man schnell das Gefühl, dass Ihr Beruf eine wirkliche Berufung für Sie ist, und dass Ihnen das Wohl Ihrer Bewohner und Mitarbeiter sehr am Herzen liegt.
Wann haben Sie sich dazu entschieden, in die Seniorenarbeit zu gehen? Was geben Sie Ihren Auszubildenden mit, die sich auf den gleichen Weg machen möchten?
Das war purer Zufall. Ich hatte bereits eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann gemacht und leistete im Anschluß Zivildienst. Diese Arbeit ging mir so gut von der Hand und ich spürte einfach, das ist mein Beruf. Heute gibt es, leider, den Zivildienst nicht mehr. Sicherlich würden sich dann viel mehr Menschen für den Beruf der Altenpflege entscheiden. Allerdings machen einige junge Menschen ein freies soziales Jahr. Im Anschluß daran absolvieren bei uns in der Einrichtung viele die Altenpflegeausbildung.
Wer in die Pflege möchte, der sollte unbedingt Respekt vor dem Alter, der Demenz und dem Tod mitbringen. Es ist nach wie vor ein schwerer, aber großartiger Beruf. Und es geht nicht nur um das Waschen, Bekleiden, Essen anreichen und Toilettengänge. Dieser Beruf ist so facettenreich! Man lernt über die Gabe von Medikamenten, Injektionen, Wundverbänden, weiter über Lösungsstrategien bei Konflikten mit an Demenz erkrankten Menschen bis hin zu den Grenzen der Rechtsgrundlagen. Unter anderem organisiert man Arztbesuche, arbeitet Visiten aus, ist bei Feststellung eines Gutachtens vom MDK dabei und bekommt noch Einblicke in die Bereiche ambulante Pflege, Krankenhaus und Psychiatrie. Und das ist nur eine kleine Aufzählung.
Hätten Sie für uns ein paar kleine grundsätzliche Tipps, die den Alltag für Menschen mit Demenz angenehmer machen können?
Begeben Sie sich auf die Ebene des an Demenz erkrankten Menschen. Nehmen Sie ihn wahr und erklären seine Äußerungen für gültig. Wenn Sie nicht wissen wie sie damit umgehen sollen, beobachten Sie den Menschen. Fällt Ihnen auf, dass die Person aufgeregt ist, dann sagen sie das mit den Worten:“ Sie sind aufgeregt!“ In der Regel erhalten sie eine Reaktion. Daraus kann sich ein Gespräch ergeben. Bestenfalls kommt der Mensch wieder zur Ruhe.
Das geht auch bei Menschen die Ihnen freudestrahlend entgegenkommen. Äußern sie doch einfach:“ Ihnen geht es gut. Sie strahlen über das ganze Gesicht.“ Mit diesen Sätzen werden sie wunderbare Reaktionen erfahren.
Achten Sie darauf, dass sie den Menschen nicht überfordern, indem sie duftende Dinge spielerisch erraten lassen möchten. Der dementiell Erkrankte nimmt, als Beispiel, den Geruch von Kaffee zwar wahr, weiß aber nicht was dies ist. Angenehmer wäre es zu äußern: „Hier ist Kaffeepulver, riechen Sie mal!“
Gehen Sie mit den an Demenz Erkrankten an die frische Luft. Auch bei Regen. Sie werden überrascht sein, wie sehr das gemocht wird.
Und hier noch ein Tipp zum Mittagschlaf:
Dass die beliebte Mittagsruhe gewünscht war, kann ich nicht bestätigen. Unsere dementiell Erkrankten Bewohner waren wach und aufmerksam und ließen sich nicht zur Mittagspause bewegen. Deswegen kümmerten wir uns grundsätzlich mit Gesprächen und Spielen um unsere Bewohner. Falls doch jemand einschlief, haben wir den Bewohner auf der Couch, im Aufenthaltsraum hingelegt. Kaum jemand wollte alleine im Zimmer ruhen, die Bewohner genossen offensichtlich die Nähe und Gespräche von Mitbewohnern und Personal.
Den an Demenz Erkrankten mit seinen, für uns unverständlichen Tätigkeiten oder Aussagen, annehmen. Nicht korrigieren! Was nützt es dem Menschen, wenn er in die Realität zurückgeholt wird? Wenn man äußert, dass die Tochter 58 Jahre alt ist und kein Kind von 5 Jahre mehr. Oder das die Mutter doch schon lange tot sei. Damit können Sie sich Probleme schaffen. Und sein wir doch mal ehrlich: Wenn ein 78jähriger, dementiell Erkrankter der Meinung ist, er sei 30 Jahre alt, wer will ihm dann erzählen, dass sein Kind über 50 sein soll. Klingt doch plausibel, oder? Denken Sie mal darüber nach!
Sollten Sie jetzt einige Leser mit Ihren Ideen bzgl der Wohnraumgestaltung angesteckt haben: Welche Möglichkeiten gibt es, an gute und für den Alltag sinnvolle alte Möbel zu kommen, die nicht allzu teuer sind?
In der Regel ist es hilfreich sich vorerst in der eigenen Familie zu erkundigen. Wenn ein Angehöriger in eine Einrichtung der Pflege zieht, bleiben noch viele Möbel für den Sperrmüll über. Vielleicht gibt es dort die Möglichkeit an eine bsp. Standuhr oder Schirmlampe zu kommen.
Sämtliche Foren im Internet bieten alte Möbelstücke an. Hier war es uns allerdings wichtig, dass die max. Kosten von 150 € nicht überschritten werden.
Würden Sie uns vielleicht eine kleine Geschichte oder Anekdote erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Ihrer Arbeit erreichen können?
Es gibt immer wieder erstaunliche Beobachtungen, wenn man mit Menschen mit Demenz arbeitet.
Zum Frühstück gibt es zu den „normalen“ hellen Brötchen auch dunkle Brötchen (6-Korn-Brötchen). Eine an Demenz erkrankte Dame ergriff ein dunkles Brötchen und begann sodann mit dem Messer, die dunkle Farbe des Brötchens abzukratzen. Sie war der Meinung, es sei verbrannt. Sie kratzte so emsig und ärgerte sich immer mehr, weil das Verbrannte sich nicht lösen ließ. Wir entschieden uns nach einer kurzen Weile, das dunkle Brötchen durch ein helles zu ersetzen. Die Situation entspannte sich umgehend.
Sehr viele an Demenz erkrankte Menschen erleben größtenteils dunkle Lebensmittel wie dunkle Brötchen, Bratensoße, Rinderbraten oder ähnliches als verbrannt. Bei Kaffee, Nußnougatcreme oder Schokolade haben wir das allerdings nicht festgestellt.
Ein weiteres Beispiel: In unsere Wohnküche schimpfte ein älterer, an Demenz erkrankter Herr lautstark über sein Frühstück. Als ich mich zu ihm gesellte verstand ich sein Problem. Er hatte Erdbeergelee auf dem Toastbrot, und der ältere Herr wollte die kleinen festen Stücke gleichmäßig verteilen. Allerdings landete das Gelee entweder auf oder neben dem Teller, jedoch nicht gleichmäßig auf seinem Toast. Der Mann schaute mich an und sagt immer wieder: „Schau Dir das an, schau Dir das an. Alles Mist. Es bleibt einfach nicht liegen. Da, schon wieder.“ Dieses Problem ärgerte den Herrn so stark, dass ich ihm einfach eine Erdbeermarmelade anbot um den Stressfaktor zu senken. Und der Erfolg kam umgehend. Die Marmelade ließ sich verstreichen, der Mann war glücklich und frühstückte mit dem Satz: „Geht doch.“
Es sind manchmal die, für uns, banalsten Dinge, die es einem an Demenz erkrankten Menschen so schwer machen.
Und noch ein letztes kleines Beispiel im Umgang mit der Kommunikation:
Es war Mittagszeit auf dem Wohnbereich. In einer Ecke saß eine Alltagsbegleiterin, die einer Bewohnerin mit schwerer Demenz das Essen reichte. Mir fiel die Situation sofort auf, da die ältere Dame offensichtlich was erzählte und die Alltagsbegleiterin sie ansah und lauschte. Das Gesagte der Dame konnte man nicht verstehen, so ein Durcheinander war es. Aber durch die direkte Aufmerksamkeit der Alltagsbegleiterin war unmissverständlich klar, hier wird etwas Wichtiges erzählt. Es war ein wunderbares Bild und ich gesellte mich kurz dazu. Die Bewohnerin sah mich an und ich wünschte ihr einen guten Appetit. Die Bewohnerin nickte und erzählte sofort in „ihrer Sprache“ irgendetwas Interessantes. Dann zeigte sie nach Draußen. Ich äußerte: „Herrliches Wetter!“, worauf die Dame wieder unablässig, mit viel Gestik erzählte. Dabei fiel das Wort „hoppeln“, dass ich sofort aufschnappte und nachdem die Bewohnerin mit ihrer Aussage stoppte sagte ich: „Draußen flitzen auch ganz viele Hasen über den Rasen. Da ist richtig was los!“ Die Dame nickte und lachte und zeigte mit ihrem Finger auf das Fenster. Meine Kollegin äußerte dann: „Die schmecken auch gut! Im Backofen wird das ein herrlicher Braten.“, worauf die Bewohnerin entrüstet etwas schimpfte.
Wir brauchen viel mehr Menschen, die mit ihrem Herzen Aufmerksamkeit und Wertschätzung an Menschen mit Demenz verschenken.
Was wünschen Sie sich von der Zukunft?
Eine Änderung im Pflegegesetz. Wir benötigen dringend für zwei an Demenz erkrankte Bewohner, eine Vollzeitpflegefachkraft sowie eine Betreuungskraft.
Ich gebe zu, das war wirklich ein herrlicher Wunsch. Jedoch fällt heute mehr als noch vor fünf Jahren auf, wie groß der Bedarf an Pflegekräften ist. Wie soll gute und verantwortungsvolle Pflege geschehen, wenn immer mehr gekürzt wird? Das geht zu Lasten aller, in erster Linie aber leiden die älteren Menschen darunter.
Herzlichen Dank, Herr Preuß!!!
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