Lieder die Identität stiften.
Die Altistin Wiebke Hoogklimmer singt für Menschen mit Demenz!
Nach Abschluß des Diplom-Studienganges Musiktheaterregie an der Musikhochschule Hamburg privates Gesangstudium bei Elisabeth Umierski, Prof. Annie Schoonus und KS Christiane Bach-Röhr. Regieassistentin, Inspizientin, Abendspielleiterin, Mitarbeiterin im Künstlerischen Betriebsbüro etc. an der Niedersächsischen Staatsoper Hannover, Stadttheater Hildesheim, Hamburger Staatsoper, Deutschen Oper Berlin, beim Internationalen Sommerkurs auf Schloß Weikersheim etc. Neben derTätigkeit in der Altgruppe des RIAS-Kammerchors (1988-91) solistische Bühnenerfahrungen mit den Rollen der “Arnalta”, “King” und “Queen” (Toovey’s “Ubu”), “3. Dame“, “Orfeo” (Gluck), „Geneviève“ (Debussy). Hauptsächlich als Altistin im Konzert- und Liedgesang tätig, wobei ihr Repertoire vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik reicht. Seit 1998 Zusammenarbeit mit dem Pianisten Prof. Patrick Walliser. 2003 gemeinsame CD “Clairières dans le ciel” mit dem gleichnamigen Liederzyklus von Lili Boulanger bei THOROFON. 2006 CD “Franz Schubert: Winterreise” unter eigenem Label. Seit 1986 Mitarbeit bei verschiedenen Filmproduktionen, die größenteils ihre Premiere bei der BERLINALE hatten.
Hallo Frau Hoogklimmer, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.
Ich bin ausgebildete Opernregisseurin und Altistin und lebe in Berlin.
Wie ist es dazu gekommen, dass Sie für Menschen mit Demenz singen?
Im Jahr 2000 erhielt meine Mutter ihre Alzheimer-Diagnose. Der Krankheitsverlauf war schleichend, aber stetig. So etwa vor 6 oder 7 Jahren, als meine Mutter trotz Logopädin immer mehr die Sprache verlor, fing ich an, mit ihr Volkslieder zu singen. Dies machte meiner Mutter unglaublich viel Spaß. Als die Sprache immer weniger wurde und meine Mutter immer mehr Vokabeln vergaß, war ich vollkommen überrascht, daß sie beim Singen komplizierte Phrasen mitsang und auch Worte benutzte, die gar nicht mehr in ihrem Repertoire waren.
Begeistert von dieser Erfahrung, jenseits des Wortes mit meiner Mutter kommunizieren zu können, hatte ich die Idee, die Volkslieder so, wie ich sie meiner Mutter vorsinge – also mit tiefer Stimme, großer Textverständlichkeit und ohne Instrumentalbegleitung -, aufzunehmen und als CD zum Mitsingen herauszugeben. Die Idee dahinter ist, daß vielleicht andere Angehörige gern mit ihren dementen Eltern singen möchten, aber vielleicht nicht so gut singen können oder die Lieder nicht kennen. So ist das Mitsingen mit der Sängerin auf der CD vielleicht eine Hilfe.
Welche Bedeutung haben Lieder und Gesang für Sie?
Ich liebe grundsätzlich das Kunstlied sehr und habe schon immer gern Liederabende gegeben. Die Volkslieder sind wesentlich schlichter als das Kunstlied, obwohl es auch einige Überschneidungen gibt – Brahms etc….. Aber sowohl Kunst- wie Volkslied behandeln Themen wie Liebe, Heimat, Lustiges, Trauriges, Festtage, den Jahreslauf, also eigentlich das gesamte Leben. Das Volkslied hat im Gegensatz zum Kunstlied in der Regel eine schlichte, eingängige Melodie, die jeder leicht mitsingen kann. Sowohl Kunst- wie Volkslieder berühren mich sehr.
Gesang im Allgemeinen bedeutet mir sehr viel, da man beim Singen viele Emotionen ausleben kann und grad der klassische Gesang auch körperlich sehr viel Spaß macht.
Welche Bedeutung haben Lieder und Gesang für Menschen mit Demenz?
Musik scheint andere Hirnregionen anzusprechen als Sprache. So ist es wohl möglich, daß Menschen, die eigentlich nicht mehr sprechen können, plötzlich Lieder mit Text singen können. Menschen mit Demenz erinnern sich wohl über die Melodien an die alten Lieder und an die damit verbundenen Situationen. Dabei sind das nicht nur Volkslieder, sondern auch alte Schlager, Tanzmusik oder klassische Musik, eben die Musik, die früher in ihrem Leben eine Rolle gespielt hat und an die sie Erinnerungen knüpfen. Man kann über die Musik einen intensiven Zugang zu den dementen Menschen finden. Wichtig ist allerdings, daß man beim Singen einen engen Kontakt mit den Demenzkranken hält, sei es über Augenkontakt, Händehalten, animierendes Singen oder ähnliches.
Können Sie vielleicht eine kleine Anekdote oder Geschichte erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Hilfe Ihres Gesangs erreichen?
Meine Mutter befindet sich seit 4 Jahren im Endstadium der Alzheimer-Erkrankung, d.h. sie spricht nicht mehr und kann sich auch nicht eigenständig bewegen. Heutzutage singt sie nicht mehr mit mir mit, sondern ich singe ihr vor. Aber plötzlich im Gesang fängt sie bisweilen an zu brabbeln, will mir was sagen, ist emotional stark erregt, versucht sich zu bewegen etc. Durch den Gesang können meine Mutter und ich starke intime Momente haben.
Und ich habe beim gemeinsamen Singen in der Gruppe erlebt, daß eine Schlaganfallspatientin, die überhaupt nicht mehr spricht, alle Lieder mit Text laut und deutlich mitsingt.
Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie bis jetzt eine CD (für Menschen mit Demenz) veröffentlicht. Was ist auf dieser CD zuhören?
Die erste CD ist die Kinderlieder-CD. Dort habe ich 32 gängige Kinderlieder aufgenommen wie Auf einem Baum ein Kuckuck, Kommt ein Vogel geflogen, Hänschen klein, In einen Harung jung und stramm, Alle Vögel sind schon da, Spannenlanger Hansel etc. Sie finden eine Aufstellung aller Lieder mit Hörproben auf der Website www.volksliedsammlung.de. Dort können Sie auch die CD persönlich bei mir bestellen.
Die Kinderlieder-CD wurde übrigens auch schon von Eltern für ihre Kinder zum gemeinsamen Mitsingen gekauft.
Die Weihnachtslieder-CD ist gerade in Produktion. Danach werden Liebeslieder kommen und so fort…….
Kindheit – Gedächtnis – Gefühl – Alter – Identität. Diese Worte findet man sowohl auf Ihrer CD als auch auf Ihrer Internetseite. Was verbinden Sie mit jedem dieser Worte?
Ich wollte einen Bogen spannen, was wir alles mit Volksliedern verbinden.
Die Erinnerung an die Kindheit. Das spannt wieder den Bogen zum Alter. Bei Kindern wie alten Leuten wird die Sprachfähigkeit durchs Singen gefördert.
Die Lieder sprechen sehr stark das Gefühl an. Über das Gefühl komme ich auch wieder zum Gedächtnis. Gedächtnis ist wieder ein anderes Wort für Erinnerung. Und die Identität ist für mich ein anderes Wort für Heimat, da mir das Wort Heimat zu deutsch besetzt war. Auch Menschen aus ganz anderen Ländern finden in ihren Volksliedern ihre Identität wieder.
Was wünschen Sie sich von der Zukunft?
Daß wir alle weiter fröhlich singen! 😉
Herzlichen Dank, Frau Hoogklimmer!!!
Zur Internetseite von Wiebke Hoogklimmer- der Volksliedersammlung