Biografiearbeit bei Menschen mit Demenz
8 Fragen an Charlotte Berendonk
Stipendiatin im Graduiertenkolleg Demenz am Netzwerk AlternsfoRschung (NAR) der Universität Heidelberg
Hallo Frau Berendonk, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.
Ich heiße Charlotte Berendonk. Nach meiner Ausbildung zur Altenpflegerin in Stuttgart habe ich an der Hochschule Fulda Pflege studiert. Während meines Studiums und auch noch während meiner Forschungstätigkeit an der Universität Heidelberg habe ich weiterhin in der stationären Altenpflege gearbeitet. Mir war es immer wichtig, Kontakt zur Praxis zu haben und mitzuerleben, wie sich die Arbeit in den Pflegeheimen entwickelt. Meine Arbeit am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg drehte sich vor allem um die Frage, wie Lebensqualität von Menschen mit Demenz in stationären Altenhilfeeinrichtungen gefördert werden kann. Ich habe gemeinsam mit Kolleginnen ein Pflegekonzept entwickelt und wissenschaftlich geprüft: das DEMIAN-Konzept (DEMIAN steht für DEmenzkranke Menschen in Individuell bedeutsamen AlltagssituationeN). Es ist ein Pflegekonzept zur emotionalen Förderung von Menschen mit Demenz. Den Ausgangspunkt bilden individuell positiv bedeutsame Alltagssituationen der betroffenen Personen. Diese Situationen sollen – in ihren gegenwärtigen und biografischen Bezügen – von den pflegenden Bezugspersonen systematisch erfasst und gestaltet werden. In diesem Konzept spielt die Biografiearbeit eine wichtige Rolle.
Das Thema Biografiearbeit mit Menschen mit Demenz beschäftigt mich auch weiterhin: Welche subjektiven Vorstellungen haben eigentlich Pflege- und Betreuungspersonen von Biografiearbeit mit Menschen mit Demenz, und wie wirken sich diese auf ihr tägliches Handeln aus? Diese Fragen stehen im Zentrum meines aktuellen Forschungsprojekts, das ich am Netzwerk AlternsfoRschung durchführe.
Biografiearbeit – das kann viel bedeuten. Was genau verstehen Sie darunter?
Biografie bezieht sich auf die subjektive Darstellung des eigenen Lebenslaufs und der erlebten Zeit. Mit dem Lebenslauf werden im Allgemeinen eher die Fakten eines Lebens dargelegt, z. B. der Geburtsort, der Schulabschluss, der berufliche Werdegang. Mit der Biografie beschreibt jede Person ihre eigene Sicht auf ihr Leben. Das sind zum Beispiel Erfahrungen und Erlebnisse, die für sie individuell bedeutsam waren und mit denen intensive Emotionen verbunden sind. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Biografie in jeder Erzählung zusammen mit dem jeweiligen Gesprächspartner neu konstruiert werden kann. Das bedeutet möglicherweise, dass eine Bewohnerin einer Pflegepersonen etwas aus ihrem Leben erzählt, dass sie einer anderen gar nicht oder etwas abgewandelt darstellt. Im Rahmen der Biografiearbeit wird gezielt nach diesen bedeutsamen Erinnerungen, Interessen, Vorlieben, Abneigungen der zu pflegenden Person gesucht. Auf diese Weise möchten Pflege- und Betreuungspersonen die zu pflegende Person kennen lernen und herausfinden, welche individuellen Maßnahmen zur Förderung der Lebensqualität für diesen Menschen passen könnten.
Dabei können unterschiedliche Vorgehensweisen Informationen über biografisch und aktuell bedeutsame Themen erbringen: Das Gespräch mit dem Menschen selber und die Beobachtung durch Mitarbeitende im Alltag. Aber eben auch das Einbeziehen von wichtigen Bezugspersonen (Angehörige, Freunde, Bekannte usw.), die die Person gut kennen. Diese Informationen können z. B. in einem Biografiebogen oder anderen Dokumenten aufgeschrieben werden. Es gilt dabei aber immer zu berücksichtigen, ob die gesammelten Informationen auch in der aktuellen Situation noch so bedeutsam für die Person sind, dass sie in die Pflege und Betreuung einbezogen werden sollten, um z. B. Momente der Freude, des Entspannens, des Glücks zu ermöglichen. Aus meiner Sicht leistet Biografiearbeit dann einen entscheidenden Beitrag zur Förderung subjektiven emotionalen Wohlbefindens, wenn
- sie auf Informationen beruht, die gezielt und systematisch erhoben wurden und für die pflege- und betreuungsbedürftige Person individuell bedeutsam sind,
- sie über eine reine Informationssammlung hinausgeht und die Erkenntnisse kreativ und individuell in Maßnahmen für Pflege und Betreuung einfließen lässt,
- das aktuelle Erleben der Menschen mit Demenz und die aktuell bedeutsamen Themen zum Maßstab der Wirksamkeit dieser Interventionen erhebt und
- auf der Basis dieses Maßstabs eine kontinuierliche Evaluation und Anpassung der Maßnahmen im Pflegeprozess vorgenommen wird.
Welche Bedeutung hat die Biografiearbeit bei der Arbeit mit Demenzkranken?
In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist Biografiearbeit ein bedeutsames Konzept. Das aktuelle Erleben der Menschen mit Demenz ist geprägt durch vergangene Erfahrungen und kann deshalb nur durch das Wissen über die Biografie des Individuums verstanden, eingeordnet und beeinflusst werden. Ohne die Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Hintergründe bleiben die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz häufig unerkannt oder werden falsch interpretiert, was dann eine Bedrohung oder Reduzierung ihres subjektiven Wohlbefindens bedeutet. Und nur durch die Kenntnis und intelligente wie auch sensible Nutzung bedeutsamer „Anker“ (z. B. Hobbys, berufliche Hintergründe, bedeutsame Personen usw.) gelingt es, eine Beziehung aufzubauen und Situationen emotional positiv zu gestalten. Durch die Auseinandersetzung mit der Biografie sind Pflege- und Betreuungspersonen in der Lage, individuelle Maßnahmen für Menschen mit Demenz zu erarbeiten und soziale Aktivitäten den Wünschen entsprechend zu gestalten.
Welche Herausforderungen sind mit der Biografiearbeit bei einer fortgeschrittenen Demenz verbunden?
Möglicherweise verlieren die Personen im Verlauf ihrer demenziellen Erkrankung die Fähigkeit, sich durch Worte mitzuteilen. In diesem Fall sind die Pflege- und Betreuungspersonen auf ihre Beobachtungskompetenz angewiesen. Die Fähigkeit, sich über Mimik, Gestik, Körperhaltung, also der nonverbale Ausdruck von Empfindungen, auszudrücken, bleibt auch bei Menschen mit Demenz sehr lange erhalten. Und je länger die Mitarbeitenden eine Person begleiten, desto besser können sie einschätzen, wie es dieser geht, was ihr gefällt, was sie ablehnt usw. Falls diese Personen dann noch nahe Bezugspersonen haben, sollten diese auf jeden Fall einbezogen werden, damit gemeinsam über die individuelle Förderung dieser Person nachgedacht werden kann.
Wie kann man die Biografiearbeit erfolgreich in den Pflegealltag integrieren?
Aus meiner Wahrnehmung ist es wichtig, die Biografiearbeit in den Pflegeprozess zu integrieren. Erst wenn Informationen über bedeutsame Lebensereignisse und Erfahrungen systematisch erhoben und daraus Maßnahmen abgeleitet werden, die in die konkrete Pflege- und Betreuungssituation einfließen und möglichst allen Mitarbeitenden bekannt sind, kann es gelingen, dass das Konzept gezielt und systematisch angewendet wird. Ich erlebe es häufig, dass die Mitarbeitenden einen großen Wissensschatz über einzelne Bewohnerinnen und Bewohnern haben. Das heißt, die einzelnen Pflege- und Betreuungspersonen beobachten sehr viel in ihrem Alltag, erfahren vieles durch Gespräche usw. Allerdings wird kaum etwas darüber notiert. Auch der Austausch darüber findet eher selten statt. Im Alltag stehen eher die Probleme im Vordergrund, weniger das Wissen und die Erfahrungen über gelungene Situationen. Deshalb plädiere ich dafür, dieses Wissen über biografisch bedeutsame Themen in die Pflegeplanung zu integrieren, um eine individuelle Pflege und Betreuung zu planen und den Austausch im Team über dieses Wissen zu fördern.
Ist es nicht problematisch, wenn durch Biografiearbeit negative Emotionen geweckt werden?
Der Umgang mit negativen Emotionen ist natürlich eine Herausforderung für Pflegende. Sie haben möglicherweise ohne Absicht Emotionen bei ihrem Gegenüber ausgelöst, die für dieses belastend sind. Aber auch für die Pflege- und Betreuungspersonen selber ist dies eine schwierige Situation. Sie benötigen jetzt Kompetenzen und Strategien, wie sie mit diesen negativen Emotionen umgehen können, um der Person gerecht zu werden. Dies ist allerdings nicht nur ein Phänomen der Biografiearbeit. Ich denke, dass Menschen, die sich in solch kritischen Lebensphasen befinden, wie es das Alter sein kann, immer wieder an ihre Grenzen kommen. In solchen Situationen sind Pflege- und Betreuungspersonen häufig wichtige Bezugspersonen, die dann sensibel mit der Situation umgehen können sollten.
Dass Biografiearbeit eine wichtige Rolle in der Altenpflege spielen sollte, ist weitestgehend anerkannt. In welchem Stadium befindet sich Ihrer Meinung nach die Umsetzung?
Es gibt in der wissenschaftlichen/theoretischen Literatur Hinweise auf eine Diskrepanz zwischen Biografiearbeit, wie sie in der Praxis betrieben wird und den Prinzipien, die diesbezüglich in der Literatur beschrieben werden.
Die Einrichtungen der stationären Altenhilfe befinden sich meiner Erfahrung nach auf einem unterschiedlichen Stand der Implementierung eines individuellen Biografiearbeitskonzepts. Viele Einrichtungen geben zwar an, biografieorientiert zu arbeiten, tun dies aber nicht wirklich gezielt und systematisch. Es reicht eben nicht aus, Informationen in einem Biografiebogen zu sammeln und diesen dann in der Pflegedokumentation abzulegen. Auch die in der Pflegedokumentation vorgehaltenen Biografiebögen sind häufig ein Problem: Hier können zwar viele Fakten über einen Lebenslauf gesammelt werden, aber die Bedeutung, welche diese Fakten für den Menschen haben und hatten, wird meistens nicht erfasst.
Entscheidend ist schließlich, ob die gesammelten Informationen in der konkreten Pflege- und Betreuungssituation berücksichtigt werden: Pflege- und Betreuungspersonen sollten sich überlegen, welche Schlussfolgerungen sie aus dem Wissen über die Biografie von Menschen mit Demenz ziehen können. D. h. sie sollten überlegen, ob sich konkrete Maßnahmen ableiten lassen, zum Beispiel Vorlieben berücksichtigt und Rituale aufrecht gehalten werden können. Darüber hinaus sollten sie diese Informationen berücksichtigen, wenn Personen ein für sie herausforderndes Verhalten zeigen. Möglicherweise hilft es, diese Situationen vor dem Hintergrund des Wissens besser zu verstehen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Biografiearbeit?
Dass den Pflege- und Betreuungspersonen bewusst wird, wie viel sie im Alltag über die zu betreuenden Personen erfahren und sie die Gelegenheit bekommen, sich über dieses Wissen gezielt auszutauschen. Dadurch sollte es möglich sein, dieses Wissen über bedeutsame Situationen, Erlebnisse, Dinge, Personen usw. bewusster in den Umgang mit Menschen mit Demenz und allen anderen pflegebedürftigen Menschen einzubeziehen. Auf diese Weise kann es gelingen, eine wichtige Ressource von Menschen mit Demenz zu fördern, das Erleben und Ausdrücken von Emotionen, das bis in späte Stadien der Erkrankung erhalten bleiben kann.
Herzlichen Dank, Frau Berendonk !!!
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