Die „Sensorische Aktivierung“

Im Gespräch mit Lore Wehner

 

lorewehner



 

Hallo Frau Wehner, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.

Gerne stelle ich mich mit meinem Lieblingsspruch von Frederick Leboyer vor, welchen ich für den Bereich der Aktivierung abgewandelt habe.
Achtsame Hände…
Berührt, gestreichelt und bewegt zu werden, das ist Nahrung für den alten Menschen. Nahrung, die genauso wichtig ist wie Mineralien, Vitamine und Proteine, Nahrung die Liebe ist.
Wenn ein alter Mensch sie entbehren muss, will er lieber sterben und nicht selten stirbt er wirklich.
v. Frederick Leboyer, abgewandelt von Lore Wehner

 

Wertschätzende, achtsame, würdevolle, ja auch liebevolle Aktivierung, Pflege, Betreuung, Förderung und Therapie ist mir ein großes Anliegen. Aktivierung kann hier ein wesentlicher Beitrag für mehr Menschlichkeit im Alter sein, denn jeder der aktivierend pflegt, betreut oder fördert, bringt seine wertschätzende, achtsame Haltung ein.

 

 

Sie haben das ganzheitliche Förderkonzept der „Sensorischen Aktivierung“ entwickelt. Was sind die Grundlagen dieser Aktivierung?

Grundlage der Sensorischen Aktivierung ist zum einen die Methode Montessori für SeniorInnen, welche ich den Bedürfnissen des alternden Menschen, des pflegebedürftigen Menschen oder den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen mit Demenz angepasst habe.
Sowie ein ganzheitliches Förderkonzept welches auf der Grundlage des holistischen Menschenbildes aufgebaut wurde. Körper, Geist und Seele brauchen im Alter Aktivierung, Anregung, Zuwendung, achtsame Hände, Wertschätzung, eine liebevolle Begleitung und Pflege uvm.

Aktivierungsfachfrauen und Aktivierungsfachmänner gibt es als anerkannte Berufsgruppe in der Schweiz seit 30 Jahren. Hier ist aus meiner Sicht speziell in Österreich, großer Nachholbedarf gegeben.

 

 

Was können wir bei demenziell erkrankten Menschen mit der „Sensorischen Aktivierung“ erreichen?

Regelmäßiges Aktivierungs- oder Demenztraining kann Menschen mit Demenz Orientierung und Halt geben und dazu beitragen, dass die Alltagskompetenzen noch längere Zeit erhalten bleiben. Menschen mit Demenz bewahren ihre Ich-, Sach- und Sozialkompetenz und damit ein Stück Selbstständigkeit, Selbsttätigkeit und ein großes Stück Lebensqualität. Aktivierung fördert die verbale und nonverbale Ausdrucksfähigkeit, Kommunikation (verbal oder nonverbal) ist damit noch lange Zeit gegeben.
Aktive Gefühlsarbeit und Biografiearbeit sind wesentliche Bestandteile der Sensorischen Aktivierung um eine Beziehung und Vertrauen zwischen Betroffenen und Angehörigen oder Menschen mit Demenz und Pflegepersonen, aufzubauen und zu stärken.

 

 

Welche Methoden werden dabei eingesetzt?

Weitere fixe Bestandteile der Sensorischen Aktivierung:
– Montessori für SeniorInnen
– Motogeragogik
– Gedächtnistraining (klassisch und sensorisch)
– Biografie- und Erinnerungsarbeit
– Klangschalenarbeit
– Bedürfnisorientierte, validierende Aktivierung
– Trauerarbeit
– Gewaltfreie Kommunikation
– Rhythmik und Musik uvm…

 

 

Wie wird die Sensorische Aktivierung im Alltag umgesetzt? Und von wem?

Im Alltag der Pflege z.B. durch aktivierende, personenzentrierte Pflege. ESAP ist ein von mir entwickeltes Aktivierungs- und Pflegekonzept, das in Alten- und Pflegeheimen, geriatrischen Einrichtungen, Tageszentren usw. implementiert werden kann. Umgesetzt werden kann aktivierende Pflege durch alle pflegenden Berufsgruppen.

Im Alltag der Förderung/ Aktivierung/ Therapie/ Seniorenbetreuung z.B. Aktivierungsstunden in Kleingruppen, oder Einzelaktivierung z.B. für Menschen, welche sich nach dem Einzug in ein Alten- oder Pflegeheim in der Eingewöhnungsphase befinden, oder für Menschen mit Demenz, psychisch erkrankten Menschen usw. Auch spezielles Aktivierungstraining in Kleingruppen für Menschen mit Demenz wird in Alten- und Pflegeheimen, geriatrischen Zentren, Krankenhäusern und -stationen, in Memorykliniken und Tageszentren umgesetzt und angeboten. Auch mobiles Aktivierungs- und Demenztraining ist gefragt, vor allem für Menschen, welche im familiären Umfeld betreut und gepflegt werden.

Umgesetzt werden kann die Einzel- als auch die Gruppenaktivierung von allen in Aktivierung ausgebildeten Personen, welche im Bereich der Förderung, Therapie, Sozialbetreuung oder Animation tätig sind.

 

 

Sie haben auch ein Buch zu dem Thema geschrieben (Sensorische Aktivierung: Ein ganzheitliches Förderkonzept für hochbetagte und demente Menschen*).
An wen richtet sich das Buch und was erwartet die Leser?

Ich habe mehrere Bücher zu diesem Thema geschrieben wie Sensorische Aktivierung, Methoden und Praxisbuch der Sensorischen Aktivierung, Empathische Trauerarbeit, Kreatives Konfliktmanagement.
Meine beiden Bücher zum Thema Aktivierung sind für am Thema interessierte Personen aus den Bereichen Pflege, Förderung, Therapie, Betreuung, Begleitung und Beratung, als auch für Angehörige und Menschen mit Demenz und ehrenamtliche MitarbeiterInnen gedacht.

 

 

Können Sie vielleicht eine kleine Anekdote oder Geschichte erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Ihrer Arbeit erreichen können?

Auf einer Station fiel mir eine Frau auf, die immer mit ihrem Rollstuhl am gleichen Platz stand. Sie blickte hinaus in den Garten und schrie immer wieder laut vor sich hin, was MitbewohnerInnen und MitarbeiterInnen immer mehr belastete, bis sie schlussendlich apathisch mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl saß.

Ich hatte die Methode Erinnerungsarbeit zum Thema Hollerblüte an diesem Tag gewählt. So ging ich mit der Hollerblüte zu Frau H. und setze mich vor ihren Rollstuhl, um mit ihr in Kontakt zu treten und um den Blickkontakt zu ihr herstellen zu können. Ich legte Frau H. die Hollerblüte auf ihren Schoss und wartete einige Zeit ab. Dann frage ich sie: Riechen Sie den Hollerduft? Sie streckte ihre Hand aus, streichelte sanft über die Blüte und roch daran. Auf einmal veränderte sich ihre Körperhaltung. Innerhalb kurzer Zeit kam sie von ihrer apathischen Körperhaltung, zu einer gestreckten Körperhaltung, einem Muskeltonus, der Wachheit und Interesse ausdrückte. Sie blickte mir in die Augen und was mich dabei sehr berührte, es blickten mich zwei strahlende, lächelnde Augen an. Während unserer Aktivierungseinheit saß Frau H. aufrecht in ihrem Rollstuhl und betrachtete mich die ganze Zeit. Ich berührte ihre Hand, wartete die Bestätigung von Frau H. ab, dass die Begegnung auch von ihrer Seite willkommen ist und stellte ihr danach einige Memoryfragen zur Hollerblüte.

Als Information hatte ich vorab vom Pflegepersonal erhalten: „Frau H. ist ja dement, mit der brauchst Du nicht zu arbeiten, die bekommt ja sowieso nichts mehr mit von dieser Welt“

Frau H. erzählte mir auf meine Frage: „Woran erinnert Sie die Hollerblüte?“ folgendes:
„Den Holler kenne ich gut, denn im Krieg sind mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und ich früh am Morgen an den Stadtrand marschiert, um den Holler zu ernten. Dort haben wir den Holler gepflückt und nach Hause getragen. Wochenlang gab es im Krieg nur Holler…..Frau H. denkt nach….ich denke, wir haben den Krieg nur überlebt, weil wir den Holler hatten…..sonst war zum Essen nicht viel da“.

Viele weitere Erinnerungen und Geschichten kamen in dieser Aktivierungssequenz.
Als ich mich von Frau H. verabschiedete sagte sie zu mir: „Kommst Du wieder?“. „Wenn Sie es möchten, dann komme ich wieder.” war meine Antwort. Sie blickte mich mit Ihren strahlend blauen Augen an und sagte: „Ja bitte komm wieder, das war heute so schön“.

Viel zu schnell werden Menschen welche sich schwer integrieren können, welche das Leben in einem Alten- oder Pflegeheim nicht annehmen oder akzeptieren können, welche kurz nach dem Einzug in eine geriatrische Einrichtung verwirrt sind, als dement bezeichnet.
Hören wir doch auf damit! Machen wir uns lieber Gedanken, was hinter all der „Verwirrtheit“ steht die in vielen Einrichtungen zu beobachten ist.

Für mich steht in vielen Fällen Hospitalismus und Verhaltenskreativität im Alter dahinter!

„Dort wo ich sein kann wie und wer ich bin, dort bin ich zu Hause“

Worte zum Nachdenken.

 

 

Was wünschen Sie sich von der Zukunft?

Das Menschen in Würde altern und in Würde sterben können. Dass achtsame, würdevolle Pflege und Betreuung zum Selbstverständnis wird.

Ich gehe von dem Grundsatz „Pflege und aktiviere andere so, wie Du selbst gepflegt und aktiviert werden möchtest“ aus.

Dass mein Lehrgang zum/zur Aktivierungs- und DemenztrainerIn welchen ich ab dem Frühjahr 2015 in Deutschland anbiete, großen Anklang findet.

„Nur wer Liebe säht, kann Liebe ernten“

 

 

Herzlichen Dank, Frau Wehner!!!

 

 

 

Zur Internetseite: www.lorewehner.at

Annika

© by Annika Schneider. Staatlich examinierte Ergotherapeutin, Chefredakteurin von Mal-alt-werden.de. Bücher von Annika Schneider finden Sie hier.

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