Flurwelten…

Ein Interview mit Claudia Noelke über die bedürfnisorientierte Raumgestaltung für Menschen mit Demenz

Hallo Frau Noelke, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.

Erst einmal vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Buch und an meiner Arbeit. Ich habe mich sehr über die Anfrage für das Interview gefreut!
Nun zu mir. Ich bin 1969 im wunderschönen – man mag es kaum glauben – grünen Ruhrgebiet geboren und habe bis heute meine Wurzeln hier nicht lösen können. Als ehemalige Waldorfschülerin ( ja! Ich kann tatsächlich meinen Namen tanzen ;-)…), habe ich während meiner Schulzeit eine Tischlerausbildung absolviert, habe dann in die Pflege gewechselt und viele Jahre im Intensivmedizinischen Bereich gearbeitet. 1996 habe ich berufsbegleitend ein Soziologiestudium begonnen, habe dann aber, als die ersten Pflegewissenschaftsstudiengänge in die deutschen Hochschulen gelangten, dieses Studium aufgenommen und 2003 mit meinem Diplom zur Pflegewissenschaftlerin beendet. Seit dem beschäftige ich mich mit der Raumgestaltung von Pflegeeinrichtungen.



 

Gab es bei Ihnen einen bestimmten Moment, der Auslöser dafür war, dass Sie Ihren Fokus auf die bedarfsorientierte Raumgestaltung bzw. die Entwicklung individueller Raumgestaltungskonzepte für Menschen mit Demenz gelegt haben?

Ein Schlüsselmoment war sicherlich während eines Praktikums in einem Altenheim vor meinem Abitur: Ich weiß noch, wie ich einer schwerst dementiell erkrankten Bewohnerin, bettlägrig, nicht mehr in der Lage zu kommunizieren, das Essen reichte und  an ihrem Bett saß und über diese Zeit des Essensreichens ihre Blickperspektive einnahm und letztendlich selbst nur auf kahle weiße Wände und eine weiße Zimmerdecke starrte…Da habe ich für mich selbst gedacht. Das will ich nicht!
Das ist nun schon lange her, und die Zeiten haben sich geändert. Gestalterisch hat sich sicherlich auch eine Menge getan. Heute kommt aber die Fragestellung auf, ob das, was sich verändert hat, denn auch wirklich so effektiv für den dementiell veränderten Bewohner ist. Denn was nützt dem dementiell veränderten Bewohner eine farbliche Gestaltung der Wände, wenn er diese aufgrund physiologisch eingeschränkter Farbwahrnehmung gar nicht erkennen kann. Ebenso verhält es sich oftmals mit Bebilderungen, die in den Fluren angeboten werden. Die Bilder sind teilweise so hoch aufgehängt, dass der alte Mensch diese aufgrund seiner altersbedingten Bewegungseinschränkung gar nicht wahrnehmen kann, da sie sich außerhalb seines Blickfelds befinden. Oder anders noch – die Motivwahl hat keinerlei emotionalen Bezug oder Sinnhaftigkeit für den Bewohner und im schlimmsten Falls führt das Motiv zu Fehlinterpretationen, die vorhandene Irritationen des Bewohners noch verstärken.
Aber, ich will ja gar nicht klagen. Wie schon gesagt, in den Pflegeeinrichtungen hat sich gestalterisch viel getan, die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern. Jetzt kommt es nur  darauf an, es noch „effektiver“ zu machen, d.h, Gestaltungsmaßnahmen an dem tatsächlichen Bedarf der Bewohner auszurichten.

 

Sie haben jetzt ganz neu Ihr Buch Flurwelten – Praxisratgeber zur Flurgestaltung in Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz* im Verlag an der Ruhr veröffentlicht. Was ist der Flur für Menschen mit Demenz für ein Ort? Was macht ihn so besonders?

Der Flur in Pflegeeinrichtungen, insbesondere im Demenzbereich ist ein sehr sensibler und wichtiger Ort mit erstaunlich hohem Gestaltungspotential. Wenn man bedenkt, dass gerade dementiell veränderte Menschen ihre Zimmer mehr oder weniger nicht nutzen und sich überwiegend in den Fluren und Gemeinschaftsräumen aufhalten, diese sogar manchmal als Schlafplatz dem eigenen Bett im Zimmer vorziehen, bekommt der Flur eine ganz wesentliche Bedeutung als zusätzlicher Wohn- und Lebensraum.
Als Verkehrsfläche muss der Flur dafür sorgen, dass man sicher von A nach B gelangt. Aber er kann noch viel mehr. Die oftmals großflächigen Wandangebote können genutzt werden, den Bewohner auf seinem Weg unterhaltsam zu begleiten. Gestaltungselemente die den Bewohner auf seiner Gefühlsebene ansprechen, wirken als Orientierungshilfe, als sensorisches Stimulationsangebot oder als Ablenkung bei z.B. herausfordernden Verhaltensweisen oder um z.B. von Tabubereichen abzulenken.
Und ganz wichtig: Pflegende können die Gestaltung in ihrem Pflegealltag nutzen. Wenn Herr Müller unbedingt nach Hause will und sich verbal in keinster Weise beruhigen lässt,  kann eine erlebnisreiche Wandgestaltung manchmal Wunder bewirken. Durch eine erlebnisreiche Wandgestaltung können Sie die Interessen der Bewohner auf wertschätzende Art und Weise auf andere Dinge umlenken. Diese sollten am Besten biographieorientiert sein bzw. einen Zugang zu der Erlebniswelt der Bewohner ermöglichen. Der Mensch wird in seiner Not ernst genommen, gleichzeitig aber auch aus seiner Not empathisch und personenorientiert abgeholt. Und eben hier wird es sehr anschaulich, das das Aufstellen einer Bushaltestellenatrappe, die vorgaukelt den Bewohner „nach Hause“ zu bringen, eben nicht ausreichend ist.

 

Was sollte man generell bei der Raumgestaltung für Menschen mit Demenz beachten? Was sollte ich im Hinterkopf haben?

Einer bedarfsorientierten Raumgestaltung im Demenzbereich sollte es gelingen, die physiologischen und kognitiven Defizite der Bewohner auszugleichen und vorhandene Fähigkeiten zu fördern. Licht z.B. ist hier ein ganz wichtiges Thema. Der alternde Mensch, ob dementiell erkrankt oder nicht, hat einen erhöhten Lichtbedarf, um sich sicher in seiner Umwelt zu bewegen. Stolperfallen durch Schattenbildungen aufgrund unzureichender Ausleuchtung von Räumen soll hier nur als ein Beispiel genannt werden. Ebenso verhält es sich mit der Farbwahrnehmung oder dem Orientierungssinn. Und eben auch hier reicht es nicht aus, die eine Wand grün und die andere Wand blau zu streichen. Die Auseinandersetzung mit den individuellen Anforderungen ist der Königsweg. „Aus der Brille der Betroffenen beurteilen“. Was wir dabei als schön oder unschön erachten, ist erst mal zweitrangig.

 

In Flurwelten* geben Sie viele Tipps für die Raum- bzw. Flurgestaltung in Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz und erläutern zudem als Grundlage die physiologischen Abbau-und Veränderungsprozesse im Alter. Ich kann das Buch Jedem, der sich in irgendeiner Weise für das Thema interessiert nur wärmstens ans Herz legen!
Haben Sie für uns und unsere Leser zwei oder drei kleine Geheimtipps, wie man Räume, in denen Menschen mit Demenz leben mit einfachen Mitteln verbessern und an deren Bedürfnisse anpassen kann?

Bei allen Interventionsangeboten gilt es immer,  aus der Perspektive des Betrachters zu beurteilen bzw. zu entscheiden, physiologische und kognitive Einschränkungen im Auge zu behalten und ganz wichtig: den Menschen auf seiner Gefühlsebene anzusprechen.Gerade dann, wenn man das Ziel verfolgt mit Raumgestaltung Impulse zu setzen, um z.b. die Orientierung zu fördern oder von Tabubereichen abzulenken.
Bei der Planung eines Raumgestaltungskonzeptes ist es zudem immer wichtig den Gesamtkontext zu erfassen! Dies gilt natürlich einerseits für die Belange und Interessen der Bewohner, andererseits müssen aber jegliche Interventionen auch in den Arbeitsalltag passen. Das Beste und ausgeklügelste Raumgestaltungskonzept nutzt letztendlich niemanden etwas, wenn es nicht auf der Handlungsebene umgesetzt und dort auch „gelebt“ wird. Ein Aktivierungsangebot, das im Flurbereich installiert wurde und allein die Gemüter der Reinigungsdamen aufgrund des zusätzlichen Reinigungsaufwandes anregt, ist ein schlechtes Aktivierungsangebot. Hier heißt das Zauberwort „Kommunikation“ und zwar mit allen Beteiligten. Im besten Fall wissen vor Beginn der Planung der Entscheidungsträger, die Pflegenden, die Angehörigen, die Haustechniker, die Hauswirtschaftler, die Reinigungskräfte und der soziale Dienst „was das mit der neuen Flurgestaltung auf sich hat“.

 

Können Sie vielleicht eine kleine Geschichte oder Anekdote erzählen, die verdeutlicht, was Sie mit Ihrer Arbeit erreichen können?

Ich finde es immer sehr schön, wenn die Pflegenden berichten, wie sie die Flurgestaltung in ihrem Arbeitsalltag nutzen. Wenn sie auf der Strecke vom Bewohnerzimmer bis zur Wohnküche an einem bestimmten Gestaltungselement verweilen, mit dem Bewohner ins Gepräch kommen, oder z.B. an einer Spieluhr vorbeikommen, diese ausprobieren, aus dem Nichts ein Lied anstimmen und in den guten alten Zeiten schwelgen. Meine letzte persönliche schöne Anekdote hatte ich mit Herrn P., der von allen anderen und von sich selbst nur „der fesche Hans“ genannt wird. Herr P. Hat – wie so viele andere Bewohner – oftmals Schwierigkeiten, sein eigenes Zimmer wiederzufinden. Nachdem wir in der Einrichtung als Orientierungshilfe die biographieorientierten Türkästen installiert haben, hat sich Herr P. immer viel Zeit genommen, die Gegenstände der anderen Türkästen sehr genau anzuschauen. Das findet er sehr interessant. Wenn ich dann mit ihm durch die Flurgänge geschlendert bin, konnte er fast zu jedem ausgestellten Stück der anderen Bewohner-Türkästen eine Geschichte erzählen. Irgendwann ist er auf seinen eigenen Türkasten und die dazugehörige Zimmertür gestoßen. Er selbst war früher einmal ein Leichtathletik-Ass. In seinem Schaukasten „strahlt“ eine Medaille von 1959, als er den ersten Platz bei einem 100 m Lauf belegt hat. Daneben ein Bild von ihm aus jungen Jahren. Als er sich sein eigenes Bild anschaut, schmunzelt er, zwinkert mir zu und sagt „Mal gucken ob der fesche Hans zuhause ist!“. Das sind dann immer so Momente, wo ich denke: Ja! Alles richtig gemacht…..

 

Was wünschen Sie sich von der Zukunft?

Dass wir offen für Neues und Unbekanntes sind. Dass wir unsere wertschätzende Grundhaltung  nicht verlieren. Dass wir in der Lage sind, Dinge kritisch zu hinterfragen und die Notwendigkeit erkennen, manchmal unsere eigene Perspektiven verändern zu müssen. Und all das sollte sich nicht nur auf unseren Arbeitsalltag beschränken…

 

Herzlichen Dank, Frau Noelke!!!

Sehr gern.

 

Zur Webseite: www.pflegeraumart.de

Annika

© by Annika Schneider. Staatlich examinierte Ergotherapeutin, Chefredakteurin von Mal-alt-werden.de. Bücher von Annika Schneider finden Sie hier.

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